Das multiethnische Grodno

Als Band 23 seiner bei Harrassowitz verlegten Reihe Quellen und Studien publiziert das Deutsche Historische Institut Warschau eine grundlegende Studie über die Kulturgeschichte der multiethnischen Stadt Grodno im 20. Jahrhundert.

Die Monographie Felix Ackermanns über die lokale Ethnizität Grodnos in den Jahren 1919-1991 geht auf eine an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) verteidigte Dissertation zurück und thematisiert anhand von Phänomenen wie Nationalisierung und Sowjetisierung staatliche Aneignungsstrategien städtischer Räume in Mittelosteuropa im 20. Jahrhundert. Warum spricht man heute in der Republik Belarus im Alltag zumeist Russisch? Warum stehen sich eine postsowjetische und nationale Interpretation der Vergangenheit scheinbar unvereinbar gegenüber? Und welchen Anteil haben an dieser Situation die deutschen Besatzungen im Zuge der beiden Weltkriege? Felix Ackermann analysiert diese Fragen anhand der lokalen Geschichte der heute weißrussischen Stadt Grodno, die vor dem Zweiten Weltkrieg im Nordosten der Zweiten Polnischen Republik lag. Minutiös beschreibt er den gewaltsamen Wandel von einer vor allem Polnisch und Jiddisch sprechenden Handwerker- und Handelsstadt hin zu einer vor allem Russisch und Weißrussisch sprechenden sowjetischen Industriestadt. Der Autor interviewte für seine Studie Zeitzeugen in Israel, Polen sowie Weißrussland und nahm selbst als teilnehmender Beobachter an der Produktion von historischem Wissen vor Ort zu einem kritischen Zeitpunkt teil. So wurde er Zeuge als die über 20 Prozent starke polnische Minderheit im Jahr 2004 durch das Regime Alexander Lukaschenkas in Bedrängnis geriet. Zwei Jahre später brachten brachiale staatliche Sanierungsmaßnahmen die Substanz der historischen Altstadt in Gefahr.

Felix Ackermann beschreibt Grodno als prototypischen historischen Ort in jener mitteleuropäischen Zone, die durch die deutschen und sowjetischen Verheerungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs demographisch weitgehend zerstört wurde. Die Studie zeichnet das Ineinandergreifen von Völkermord, Zwangsarbeit, Deportationen und Umsiedlungen nach und analysiert, wie die Besatzer aktiv ethnische und nationale Zuschreibungen einsetzten, um diese Prozesse zu steuern. Auf einer breiten Quellenbasis wird die Entwicklung der weißrussischen Nation auf lokaler Ebene untersucht. Dabei stellt der Autor einen langfristigen Zusammenhang zwischen der bereits nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten Nationalisierung ethnischer Zuschreibungen und der 1939 einsetzenden und 1944 verstärkten Sowjetisierung der Region her. Die sowjetische Industrialisierung wurde demnach infolge des Zweiten Weltkriegs zur Grundlage einer modernen urbanen weißrussischen Erzählung. Durch das genaue Nachzeichnen der Migrationsströme in die Stadt sowie der Anpassunsstrategien der neuen Bewohner zeigt er, warum trotz der starken institutionellen Verankerung der weißrussischen Titularnation, die urbane Kultur Grodnos russophon dominiert ist. Die Abfolge sowie das Ineinandergreifen von Einschreiben, Löschen und Neudefinition kultureller Textur wird dabei als lokaler Aneignungsprozess beschrieben, in dessen Ergebnis ein Palimpsest entsteht. Ackermann liest Grodno wie ein Pergament, in das unterschiedliche historische Texte eingeschrieben wurden und zeigt deren unterschiedliche Bedeutungen auf.

Die Publikation ist mit zahlreichen Abbildungen versehen, die einprägsam die multiethnische Geschichte Grodnos  illustrieren.

Felix Ackermann, Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäi-schen Stadt 1919-1991, Wiesbaden 2010, 372 S., EUR 35, - ISBN 978-3-447-06425-5

04
Apr
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