Die Piasten. Polen im Mittelalter

In der renommierten Reihe "C. H. Beck Wissen" schildert Eduard Mühle die Geschichte Polens im Mittelalter aus der Perspektive seines Herrschergeschlechts und legt damit Ergebnisse aus dem mittelalterlichen Forschungsbereich des Deutschen Historischen Instituts vor

Die Herrscherdynastie der „Piasten“ stellt im kollektiven Gedächtnis der Polen bis heute einen zentralen „Erinnerungsort“ dar. Die Geschichte der seit den sechziger Jahren des 10. Jahrhunderts in Erscheinung tretenden, in der Hauptlinie 1370, in der letzten, schlesischen Nebenlinie erst 1675 erloschenen Herrscherdynastie wird auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch als ein grundlegender Teil des nationalen Erbes betrachtet. Wer aber waren die Herzöge und Könige, die als „Piasten“ über vier Jahrhunderte lang die Geschicke der polnischen Länder und damit große Teile des östlichen Mitteleuropa bestimmt haben? Wie ist es ihnen gelungen, eine großräumige dynastische Herrschaft zu formen, diese gegenüber inneren und äußeren Konkurrenten durchzusetzen, zu festigen und zu erweitern? Wie vermochten sie es, ihrem Reich, ‚internationale’ Anerkennung zu verschaffen und es auch im Innern so zu gestalten und zu organisieren, dass es nicht nur als ein integraler Bestandteil der christlich-europäischen Welt angesehen wurde, sondern mit ihm das gesamte Mittelalter hindurch auch als ein politischer, kultureller und wirtschaftlicher Faktor zu rechnen war? Auf diese Fragen gibt Eduard Mühle in seiner Synthese übersichtliche und verständliche Antworten. Er eröffnet damit Einblicke in das Wesen und Funktionieren des mittelalterlichen ‚polnischen Staates’ und die spezifischen Mechanismen und Strukturen mittelalterlicher Herrschaft im östlichen Mitteleuropa.

Die Darstellung ist nach einer einleitenden Reflexion (Kapitel I) über die geschichtspolitischen Dimensionen des Themas in vier Hauptkapitel gegliedert. Kapitel II erörtert die Ursprünge und Anfänge piastischer Herrschaft, die in legendenumwobenem Dunkel liegen. Archäologische Befunde deuten auf ein vergleichsweise plötzliches Hervortreten in den 930-50er Jahren hin, während Schriftquellen den ersten namentlich bekannten Piastenherrscher für die 960er Jahren bezeugen. Zu dieser Zeit erfuhr die räumlich zunächst auf das heutige Großpolen begrenzte, erst allmählich nach Osten, Süden und Norden ausgeweitete Herrschaftsbildung durch die Annahme des lateinischen Christentums eine entscheidende Richtungsbestimmung. Die „Taufe“ war zugleich ein maßgeblicher Faktor politischer Konsolidierung und auswärtiger Anerkennung, wie sie in der berühmten Gnesener Begegnung Kaiser Ottos III. und Bolesław des Tapferen im Frühjahr 1000 zum Ausdruck kam. Auf die erste, von einem engen ottonisch-piastischen Einvernehmen getragene Blüte folgte in den 1030er Jahren eine schwere, existenzgefährende Krise, die die Begrenztheit der den frühen Piasten zu Gebote stehenden Herrschaftsinstrumente vor Augen führte. Dass sie ihre Herrschaft aus den durch heidnische Reaktionen, oppositionelle Strömungen unter Amtsträgern und verheerende Überfälle des böhmischen Nachbarn ausgelösten Wirren heraus erfolgreich wiederherstellen konnten, war auch einer Effektivierung und Weiterentwicklung ihrer Herrschaftsinstrumente zu verdanken.
 
Kapitel III zeigt, wie Kasimir der Erneuerer (1034-1058) die Monarchie wiederhergestellt hat und anschließend eine bis ins ausgehende 12., beginnende 13. Jahrhundert währende Phase relativ konsolidierter monarchischer Herrschaft einsetzte. Diese wurde zwar schon 1102-1107 durch eine parallele Teilherrschaft der beiden Söhne Władysław Hermans (1079-1102) sowie nach 1138 durch die Einweisung der Söhne Bolesławs III. (1102-1138) in einzelne Teilherrschaften in ihrer einheitlichen Struktur aufgeweicht. Doch sorgte das so genannte Senioratsprinzip dafür, dass die Familienherrschaft der Piasten unter einem Senior zunächst weiterhin zusammengehalten wurde. Das Kapitel zeigt, auf welche Weise dies geschah, wie sich dabei das Verhältnis Herzog-Herzogtum entwickelte, wie der Herzog eine abgestufte Hierarchie von Amtsträgern einsetzte und wie er mit deren Hilfe seine Beziehungen zu den Untertanen wirtschaftlich, rechtlich und militärisch organisierte, um seine monarchische Herrschaft aufrechtzuerhalten.

Kapitel IV führt vor Augen, wie die Aushebelung des Senioratsprinzip angesichts einer anhaltend hohen Nachkommenschaft zwangsläufig zu immer weiteren Erbteilungen und damit zu einer teilfürstlichen Zersplitterung führte, die die Einheit der Piasten-Monarchie im 13. Jahrhundert de facto aufgelöst hat. Ohne auf die zahlreichen daraus erwachsenen, ziemlich verwickelten Konflikte und die divergenten regionalen Teilentwicklungen im Detail einzugehen, wird der politische und soziale Gesamtcharakter der Teilfürstenzeit auf den Punkt gebracht und die herrschaftspolitische Spezifik dieser Epoche an besonders aussagekräftigen Beispielen verdeutlicht. Außer durch die Folgen der politisch-dynastischen Zersplitterung wurde piastische Herrschaft im 13. Jahrhundert durch die politisch-wirtschaftliche Emanzipation der Kirche und des Adel beeinflusst und verändert. An die Stelle einer unumschränkten personalen Herzogs- bzw. Königsherrschaft, die sich auf gänzlich abhängige weltliche und geistliche Gefolgsleute und ein archaisch-naturalwirtschaftliches System von Dienstsiedlungen und Dienstleuten stützte, trat ein komplexeres Beziehungsgeflecht zwischen Herrscher und emanzipierten kirchlichen Würdenträgern und adligen Großen, dem zugleich auch eine modernisierte wirtschaftliche Organisation von Herrschaft korrespondierte. An den modifizierten Kommunikations- und Einwirkungsformen, die sich nun ausbildeten und mitunter bereits Ausdruck im symbolischen Akt der ‚Herrscherwahl’ fanden, partizipierten neben Kirche und Adel bald auch die Eliten des neuen städtischen Bürgertums. Letzteres formierte sich im Kontext eines weiteren grundlegenden Prozesses, der piastische Herrschaft im 13. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat, nämlich im Rahmen eines massiven, durch Siedlung, Technologie- und Kulturtransfer, aber auch durch endogene wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen vorangetriebenen Landesausbaus.

Sowohl die Erfolge des Landesausbaus als auch das modifizierte, in stärkerem Maße auf kooperativ-mitberechtigten Umgang angelegte Zusammenwirken von Herrscher und Eliten boten, wie in Kapitel V dargestellt wird, seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert Anknüpfungspunkte und Voraussetzungen für eine Wiederherstellung königlich-monarchischer Macht. Schon 1295 erwarb mit Przemysł II. ein Piast erstmals seit 1079 wieder die Königskrone. Nach einem kurzfristigen Zwischenspiel in den Jahren 1300-1306, in dem zwei Přemysliden ihre böhmische mit der polnischen Königswürde verbanden, gelang Władysław Ellenlang 1320 schließlich auch eine piastische Restauration des Königreiches, die erstmals wieder über eines der Teilfürstentümer hinausreichte. Zwar vermochte auch Władysławs Nachfolger, sein Sohn Kasimir der Große, der letzte in der Hauptlinie seit 1333 herrschende, 1370 gestorbene Piast, keineswegs alle piastisch-polnischen Länder in der erneuerten einheitlichen Monarchie zusammenzufassen – Schlesien schied nun endgültig aus dem piastischen Reichsverband aus, während sich auch Pommern und das Deutsch-Ordensgebiet seinem Einfluss vollständig entzogen und Masowien noch eine ganze Weile ein eigenständiges Dasein führte. Dagegen erfolgte eine territoriale Ausweitung nach Südosten, die von nachhaltiger Wirkung und Bedeutung war, wies sie doch die Richtung zum späteren polnisch-litauischen Großreich. Neben einem erfolgreichen territorialen Herrschaftsausbau war die 37-jährige Regierungszeit Kasimirs nicht zuletzt durch eine innere Modernisierung königlicher Herrschaft gekennzeichnet, die nicht nur dem letzten Piasten ganz zurecht – in voller Parallelität zu seinen beiden ‚großen’ ostmitteleuropäischen Zeitgenossen Karl IV. und Ludwig I. – den Beinamen „der Große“ eingetragen, sondern dem piastischen Polen mit einer nochmaligen Blüte auch seinen abschließenden Höhepunkt bescherte.

Die mit einem Ausblick auf den mit der Königsherrschaft Ludwigs von Anjou seit 1370 einsetzenden Verfassungswandel beschlossene Darstellung bietet insgesamt eine konzise, den neuesten Forschungsstand repräsentierende, eigene Deutungen nicht scheuende Interpretation ‚dynastischer Herrschaft’ im mittelalterlichen Polen.

04
Apr
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