Gegenläufige Geschichtsschreibung? Polnische und deutsche historiographische Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg

Das seit nunmehr zehn Jahren stattfindende Format der Lelewel-Gespräche zielt darauf ab, aktuelle Fragen der polnischen Geschichte in ihrem europäischen Kontext im Rahmen einer multiperspektivischen Debatte zu diskutieren. Da steht es außer Frage, dass die divergente Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen einmal zum Gegenstand eines dieser Panelgespräche avanciert. Drei polnische und zwei deutsche Wissenschaftler/innen waren im Dezember zum 17. Lelewel-Gespräch geladen worden, um unter der Moderation von Christhardt Henschel ihre Positionen und Erfahrungen zu diskutieren.

Henschel wies in seiner Einleitung darauf hin, dass sich die Panelist/innen im Gespräch auf den wissenschaftlichen Bereich der Fragestellungen beschränken würden. Obwohl der Umfang der Forschungsliteratur zum Zweiten Weltkrieg in den jeweiligen Landessprachen kaum zu überblicken sei und  sich thematisch immer weiter ausdifferenziert habe, wolle er in der Diskussion anhand einzelner Schlaglichter einen Gesamteindruck von den aktuellen Forschungen zum Zweiten Weltkrieg in Polen und Deutschland einfangen. Dabei könne er sich durchaus vorstellen, dass die Forschung zu diesem Thema in beiden Ländern nicht gegenläufig sei, sondern sich vielmehr ergänze und somit aus der Distanz als zusammengesetztes Mosaik betrachtet werden könne.

Auf die Frage nach einer synthetisierenden Besatzungsgeschichte, die den heutigen pluralen Forschungsstand adäquat wiedergibt, zugleich aber auch die Unterschiede in der Besatzungsherrschaft nicht verwischt, bemerkte Rafał Wnuk (Katholische Universität Lublin) dass der Hauptanteil der Synthesen durch polnische Soziolog/innen und Politolog/innen verfasst worden sei. Diese hätten keine großen Schwierigkeiten mit bei der Arbeit mit den vorhandenen Quellen. Polnische Historiker/innen hingegen widmeten sich in ihren Arbeiten immer stärker Detailfragen. Daniel Brewing (RWTH Aachen) ergänzte von deutscher Seite, dass sich kaum ein Forschender an eine neue Synthese zur Besatzungsgeschichte in Polen heranwage, obwohl dies aus seiner Sicht dringend notwendig sei. Die jüngsten Synthesen von Martin Broszat und Czesław Madajczyk seien bereits 50 Jahre alt. Insgesamt tendiere die Forschung zu immer kleinteiligeren Fragestellungen, so Brewing. Für große Überblickswerke benötigten Forschende Zeit, Ressourcen und Muße – und daran mangele es auf beiden Seiten. Joanna Ostrowska (Warschau) fügte ergänzend hinzu, dass heute zudem meist ungewöhnliche Promotionsthemen gewählt würden.

Edyta Gawron (Institut für Judaistik der Jagiellonen-Universität Krakau) schilderte anhand der polnischen Holocaustforschung der letzten Jahre, wie sehr sich diese auch in die europäische Forschung einschreibe, da sie nicht nur über gutes Handwerkszeug verfüge, sondern auch ein hohes Tempo aufgenommen habe. Claudia Weber (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)) konnte die gute internationale Kontextualisierung der deutschen Forschung zu Holocaust und Besatzung bekräftigen. Hier zeige sich, dass die Holocaust-Forschung der Bereich ist, in dem deutsche und polnische Forschende am besten vernetzt sind. Dies könne als Indiz dafür gelten, dass neuere Forschungsperspektiven von vorneherein universeller angelegt werden. Weber wies jedoch auch darauf hin, dass für die allgemein etablierten Narrationen kein Mut zur Revision bzw. zur Etablierung einer Verflechtungsgeschichte bestünde. Hier müsse der Rückfall vielmehr in die Kleinteiligkeit konstatiert werden. Darüber hinaus merkte Brewing kritisch an, dass außerhalb der Kreise, die sich auf die Erforschung der polnischen Geschichte spezialisieren, nahezu keine Forschung mit Bezügen zu Polen stattfinde.

Die Erwägung des Moderators, dass der Mangel an wissenschaftlichem Austausch auch auf den unterschiedlichen Ausgangspunkten der beiden Länder beruhe, kommentierte Claudia Weber mit der Feststellung, dass die deutsche Geschichtswissenschaft beeindruckende empirische Arbeiten aus Polen mitunter nicht für voll nehme. Man sei nach wie vor im ethnischen Nationalismus verfangen und auch Vergleichbarkeitsstudien hätten ihre Tücken. Dabei gebe es auch Desiderate, so beispielsweise zu Fragen der Hierarchisierung von Gewalt. Zudem habe man in den 1990er Jahren die Chance vertan, nach deutsch-polnischen Verflechtungen zu fragen, womit sie sich jetzt in einem Projekt beschäftige. Joanna Ostrowska wies ebenfalls mit Nachdruck darauf hin, dass die Beschäftigung mit "vergessenen" Opfergruppen (Homosexuellen, Zwangsprostituierten usw.) ein sinnvoller Weg sei, dem Korsett nationaler Opfergeschichten zu entrinnen. Edyta Gawron betonte, Forschung beruhe grundsätzlich darauf, auf den Ergebnissen anderer aufzubauen. Folglich müsse man neue Wissenschaftler/innen ausbilden und die internationale Zusammenarbeit stärker fördern. Rafał Wnuk fügte hinzu, dass nur wenig polnische Forschungsliteratur übersetzt werde, was zur Folge habe, dass deutsche Forschende diese häufig nur schwer rezipieren könnten. Abschließend plädierte Edyta Gawron für eine generationenübergreifende Forschung, die überprüfte Erkenntnisse der alten Synthesen mit neuen Ansätzen junger Historiker/innen verbinde.

Die lebhafte Debatte zeigte, dass die historische Forschung in beiden Ländern aktuell vor ähnlichen strukturellen Problemen steht und das zweifellos vorhandene Potential zur gegenseitigen Wahrnehmung und Verflechtung auch in Zukunft weiterhin produktiv genutzt werden sollte.  

04
Apr
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