Prof. Dr. Thomas Wünsch (Passau): Before Malinowski. Moderne Ethnologie und Kulturanthropologie im Werk des polnischen Reiseschriftstellers Jan Potocki (1761–1815)

Hat die Feldforschung, das Kernstück der empirischen Arbeit der Anthropologie, wie gewöhnlich behauptet wird, wirklich erst mit Bronisław Malinowski (1884–1942) begonnen? Reisen zur empirischen Gewinnung ethnologischer Daten fanden wurden bereits vor seiner Zeit unternommen. Wie sich der Umgang mit dem kulturell Fremden um die Wende zum 19. Jahrhundert gestaltete, legte Prof. Dr. Thomas Wünsch (Passau) in seinem Dienstagsvortrag vom 29. Mai am Beispiel des Schriftstellers Jan Potocki dar. Der sprachgewandte, europäisch erzogene Adlige unternahm u.a. 1797/98 eine Reise nach Astrachan und in den Kaukasus, wo er für kurze Zeit das Nomadenleben teilte und viele ethnische Besonderheiten der dortigen Völkerschaften studierte. In seinen Niederschriften legte Potocki großen Wert auf Dinge wie die Beschreibung religiöser Praktiken auf der Grundlage teilnehmender Beobachtung, mittels derer er in die kulturelle Logik solcher Praktiken und „Institutionen“ einzudringen suchte. Der Vortragende legte dar, der Reiseschriftsteller mit seinen Aufzeichnungen bewiesen habe, dass man die Prägekraft anderer Kulturen anerkennen könne, ohne sie gutzuheißen. Wünschs Resümee lautete, dass Potocki ein Avantgardist der modernen Ethnologie und Kulturanthropologie gewesen sei und als „Ahnherr“ der ethnologischen Feldforschung bezeichnet werden könne.

Thomas Wünsch, Professor für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen an der Universität Passau, ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des DHI Warschau. Sein Dienstagsvortrag war wie die vorangehenden Veranstaltungen dieser Reihe Teil des Rahmenprogramms zum 25-jährigen Jubiläum des DHI Warschau, anlässlich dessen das Institut im ersten Halbjahr 2018 einige ehemalige und amtierende Mitglieder seines Wissenschaftlichen Beirats zu Vorträgen eingeladen hatte.

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