"Rukojemník" (Die Geisel), SK 2014

Im Rahmen der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

102 Min., Regie: Juraj Nvota

Ort: Kino Iluzjon
Der Film wird im slowakischen Original mit polnischen Untertiteln gezeigt.

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

 

Zum Film:

Rukojemník (Die Geisel)

„Du sprichst Slowakisch und lernst Deutsch. Jetzt nur noch Ungarisch und du bist ein echter Slowake“, erklärt die Großmutter Petr, der titelgebenden „Geisel“. Ende der 1960er Jahre – zu der Zeit, in der Film spielt – sind Fremdsprachenkenntnisse nicht nur ein Zeichen der Verbundenheit mit der Idee einer multikulturellen Slowakei. Für Menschen, deren Familien auseinandergerissen wurden, haben sie noch eine ganz andere Bedeutung. So für Petr, der nicht zu seinen in Wien lebenden Eltern reisen kann. Gefangene des Systems sind auch die anderen Figuren: der Großvater, der vom Restaurantchef im Wiener Carlton zum lokalen Kneipenchef degradiert worden ist, wo er Bier, Würste und Kofola, die tschechoslowakische Antwort auf die imperialistische Coca-Cola, ausschenkt. Geiseln des Systems sind sowohl Erwachsene als auch Kinder. Letztere werden durch die Schule diszipliniert, die jedoch dank einer einfühlsamen Lehrerin auch zu einem Ort menschlicher Gesten und selbstloser Solidarität mit den Schwächeren ist. Nur im Klassenzimmer, aus Kindermund, können solche einfachen und zugleich unbequemen Fragen fallen wie die an die Grenzsoldaten, die die Kinder in der Schule besuchen: Was waren das für Menschen, die ihr letzte Woche umgebracht habt? Aus Schulaufsätzen über Weihnachten lernen wir die häusliche Situation der Schüler kennen, erfahren etwas über das wahre Verhältnis ihrer Eltern zum kommunistischen System und über die Werte, von denen sie sich leiten lassen. In dem Porträt der Kinder zeigen sich wie in einem Brennglas die Absurditäten einer Zeit, in der Kinder ihren Eltern nicht wegen häuslicher Gewalt weggenommen wurden, sondern weil sich die Erwachsenen entschlossen hatten, das Land zu verlassen. Zugleich verspricht die von Heuchelei und Eigeninteresse noch unberührte Welt der Kinder, dass es das Leben in Zukunft besser mit den Hauptfiguren meinen wird. Die Fernsehbilder der in Tschechoslowakei einrückenden sowjetischen Panzer stellt diese Erwartung jedoch auf den Prüfstein. (Text: Ewa Ciszewska)

 

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

 

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

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