„Sedmikrásky“ (Tausendschönchen), ČSSR 1966

Im Rahmen der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

74 Min., Regie: Věra Chytilová

Ort: Kino Iluzjon
Der Film wird im tschechischen Original mit polnischen Untertiteln gezeigt.

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

Zum Film:

Tausendschönchen

Sollte man den tschechoslowakischen Film der Neuen Welle nennen, der am wenigsten an Aktualität eingebüßt hat, einen Film, der immer noch durch seinen visuellen Erfindungsreichtum überrascht, so fiele die Wahl auf „Tausendschönchen“. Die geradezu hysterische Suche nach einer filmischen Form – verwiesen sei auf die fantastischen Aufnahmen und Experimente mit dem Filmmaterial von Jaroslav Kučera sowie das Szenenbild und die Ausstattung von Ester Krumbachová, einer der Drehbuchautorinnen – geht einher mit einer ekstatischen Galoppade unterschiedlicher Erzählstränge. Chytilová beschrieb die Arbeit an ihrem Film mit den Worten: „Ich war wie ein Jäger, der hinter dem Wild her ist.“ Und tatsächlich erlauben die spürbare Gier und Leidenschaft Assoziationen mit einer Jagd. Beutemachen, Eroberung ist auch das Thema von „Tausendschönchen“: Maria I und Maria II machen buchstäblich Jagd auf Männer und lassen sie emotionslos und ohne Geld zurück. Aber die Welt der Hauptfiguren bewegt sich nicht ausschließlich um das andere Geschlecht. Männer sind nur ein und bei weitem nicht das wichtigste Element einer kaputten Welt, die beide Marias noch stärker zerstören wollen. Sie suchen den Exzess, überschreiten Grenzen und zerstören ihr gemeinsames Hab und Gut: demolieren die Wohnung, fressen sich voll und werfen mit Essen um sich. Alles bis aufs Letzte herauszufordern, bedeutet eine Prüfung für sie selbst und für die Welt: Gibt es Grenzen? Ja, befand die damalige Staatsmacht der Tschechoslowakei, deren Parteifunktionäre den Film öffentlich kritisierten. Obwohl er offiziell nicht verboten war, wurde der Film nur selten gezeigt. Milan Kundera musste von seinem Wohnort Prag ins 200 km entfernte Brünn fahren, um „Tausendschönchen“ zu sehen. Von der Aufführung blieben ihm zwei scheußlich schöne Mädchen in Erinnerung, die versuchen, im Hier und Jetzt von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen. (Text: Ewa Ciszewska)

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

01
Feb
Ausstellung Podiumsdiskussion
Ausstellung: Bericht aus der belagerten Stadt Tschernihiw
Mehr lesen