Über die Modernität der Nation

In der Reihe „Klio in Polen” ist im fibre-Verlag soeben die deutsche Übersetzung der Studie „Über die Modernität der Nation. Der Fall Polen“ des Warschauer Historikers Tomasz Kizwalter erschienen.

In der internationalen Forschung zur Nationsbildung und zum Nationalismus wurde die Herausbildung der polnischen Nation im 19. Jahrhundert bisher kaum berücksichtigt. In Polen  aber diskutiert man darüber überwiegend noch immer aus der Perspektive der eigenen nationalen Identität. So bestimmen die in der 120-jährigen Teilungszeit entstandenen Interpretationsmuster oft bis heute Denken und Diskurs. In der Studie beschreibt der Autor aus einer kritischen Distanz heraus Aspekte der polnischen Nationsbildung innerhalb verschiedener Epochen. Er führt den Leser in zahlreiche innerpolnische Debatten und Diskurse kenntnisreich ein und zitiert ausführlich aus wichtigen Werken, die bisher nicht in deutscher Übersetzung vorliegen. So kann die Leserschaft detailliert nachvollziehen, wie behandelte Themen und Meinungen letztlich in einen Kanon der nationalen Geschichtsschreibung mündeten, dessen Repertoire an Modellen der Vergangenheitsdeutung schließlich den historischen Rahmen für das Nationalbewusstsein schuf.

Seine Untersuchung beginnt Kizwalter mit der Betrachtung einiger Aspekte des Mittelalters. Hier setzt er sich mit Forschungsergebnissen seiner renommierten Kollegen Benedikt Zientara, Sławomir Gawlas und Karol Modzelewski auseinander. Anschließend fragt er nach dem Wesen der polnisch-litauischen „Adelsnation“ und geht ausführlich auf den Begriff des „Sarmatismus“ ein. In einem weiteren Kapitel umreißt er die Veränderungen der Aufklärungszeit, die von fundamentaler Bedeutung gewesen seien. Er beschreibt den „Polnischen Jakobinismus“, den er für einen weitgehend konstruierten, aber doch hilfreichen Terminus hält und fragt nach den Normen politischer Loyalität. Anschließend führt er in zentrale Debatten zum Begriff der „Nationalität“ in der frühen Teilungszeit ein, wobei u.a. Stanisław Staszic, Kajetan Koźmian und Maurycy Mochnacki ausführlich zu Wort kommen. Im Teil 7. beschäftigt er sich neben anderen Fragen mit der Gründung der Polnischen Demokratischen Gesellschaft (Towarzystwo Demokratyczne Polskie) und analysiert die Entwicklungen von Adel und Bauerntum einschließlich der Folgen der Galizischen Bauernrevolte. Er kommt zu dem Schluss, dass am Ende des 19. Jahrhunderts das „Volk“ eine exponierte Rolle in den gesellschaftlichen Vorstellungen der Polen einnahm, woraus tiefgreifende Veränderungen resultieren sollten. Kizwalter schließt seine Untersuchung mit einer Beschreibung der Herausbildung einer nationalistischen Ideologie um die Jahrhundertwende, wozu er die Werke von Zygmunt Balicki und Roman Dmowski heranzieht. Der Autor resümiert, dass die nationalen Ideologien anfangs nur von äußerst begrenztem gesellschaftlichem Einfluss gewesen seien. Erst durch die sukzessive Ausweitung ihres Einflussbereichs, durch die Verbreitung des nationalen Bewusstseins sei die Nation geschaffen worden. Kizwalter stellt in seinem Werk die Aktivitäten der Eliten gegen die Politik der Teilungsmächte in den Mittelpunkt, da er davon ausgeht, dass sie die entscheidende Rolle gespielt hätten. Jedoch verweist er auch darauf, dass später das Handeln des polnischen Staates zur weiteren Formierung der Nation in den Vordergrund rückte. Dieses wiederum sei seiner Meinung nach ein Prozess, der einen großen Teil des 20. Jahrhunderts einschließe, wie auch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, wozu es aber zwingend weiterer Untersuchungen bedürfe.

Tomasz Kizwalter, Über die Modernität der Nation. Der Fall Polen [Klio in Polen 16], Osnabrück 2013,  422 S., EUR 39.80,-  ISBN 978-3-938400-91-3

22
Apr
Tagung
Workshop „Infrastructures of Memory. Actants of Globalisation and their Impact on German and Polish Memory Culture”
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