Vortrag von Prof. Dr. Andreas Rödder über die „deutsche Frage” und gegenseitige Wahrnehmungen in Europa seit 1870

Die „deutsche Frage“ ist eine Konstante der europäischen Politik seit dem Dreißigjährigen Krieg, und sie ist es nach 1990 geblieben. In seinem Vortrag am DHI Warschau vom 12. Dezember 2017 unternahm Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, einen Streifzug durch die fast 150-jährige Geschichte dieser deutschen Frage bzw. des „deutschen Problems“, wie es in anderen Sprachen heißt. Dabei verband er drei Ebenen miteinander: die Strukturgeschichte der deutschen Stärke in Europa, die Handlungsgeschichte deutscher Außenpolitik und die Perzeptionsgeschichte gegenseitiger Wahrnehmungen. 

An Beispielen aus verschiedenen Epochen illustrierte Rödder, dass auf deutscher Seite Debatten über die eigene Identität eine Konstante seit der Romantik darstellten. Dabei hätten die Deutschen immer wieder zu einer auf die eigenen Interessen beschränkten Sichtweise und zur Larmoyanz tendiert – vom wilhelminischen Gefühl der weltpolitischen Benachteiligung bis zur Klage, „Zahlmeister Europas“ zu sein. Auf der anderen Seite werde Deutschland von außen bis heute nahezu durchgängig als stärker wahrgenommen, als die Deutschen selbst es täten – und als offensiv, wenn die Deutschen selbst sich als defensiv empfänden. Am Beispiel der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigte der Historiker, wie sich solche stereotypen Wahrnehmungen radikalisieren können. Dass dies kein Phänomen vergangener Zeiten sei, habe man während der Euro-Schuldenkrise gesehen, als auf allen Seiten alte Stereotype wieder aktuell und politisch relevant geworden seien.

Zuletzt gab der Vortragende dem zahlreich erschienenen Publikum einige politische Schlussfolgerungen mit auf den Weg: Im Sinne aller Hegemonietheorien müsse Deutschland als stärkste Macht in Europa in das europäische Gemeinwohl und in die europäische Ordnung investieren. Es müsse dies in nationaler Souveränität im Rahmen einer flexiblen Europäischen Union, also einer Union verschiedener Integrationstiefen, tun, „die fragt, wo mehr, wo aber auch weniger Europa sinnvoll“ sei. Eine „strategische Koordination der großen Nationalstaaten in Verbindung mit der Europäischen Union und unter Berücksichtigung der Perspektiven der anderen europäischen Staaten“ – das, so Rödder, würde „internationale Strukturen, gegenseitige Wahrnehmungen und handelnde Politik zusammenbringen“, und es wäre eine „zeitgemäße Antwort auf die deutsche Frage im 21. Jahrhundert“.

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Apr
Tagung
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