Regionalität und Regionsbildung


Einleitung

Regionalismus ist ein integraler Bestandteil kultureller Entwicklungen der europäischen Geschichte, auch wenn es sich um eine häufig vernachlässigte oder gering geschätzte Sichtweise handelt. In den letzten Jahrzehnten kann eine zunehmende Bedeutung regionaler Forschungsperspektiven beobachtet werden.
Zum einen werden diese heuristisch benutzt, um den wirtschaftlichen, sozialen und  strukturellen Wandel zu analysieren. Dabei steht der Ansatz im Vordergrund,  neben nationalen und staatlichen auch andere Kategorien zu fokussieren. Der Blick auf die Region gestattet größere Präzision besonders hinsichtlich lokaler und zeitlicher Dimensionen und  ermöglicht infolgedessen eine genauere Nachzeichnung und Analyse der beobachteten Entwicklungen. Daraus ergeben sich neue Impulse auch für den historischen Vergleich.
Zum anderen ermöglicht diese Perspektive eine historische Analyse regionaler Kategorien sowohl im strukturellen als auch im diskursiven Kontext. In der bisherigen Forschung stand vor allem der Zusammenhang mit der Nationsbildung, mit reduzierender Fokussierung auf den Regionalismus als angeblichen Vorgänger oder aber als Konkurrent zum Nationalismus, im Vordergrund. Zuletzt entstanden zahlreiche Studien zu regionalen Identitäten und Bewegungen, deren Ziel es ist, Alternativen zur Schwerpunktsetzung der historischen Identitätsforschung auf die Nation aufzuzeigen.
Der Forschungsbereich „Regionalität und Regionsbildung“ knüpft an diese Impulse an, geht aber über den bisherigen Forschungshorizont hinaus. Die Region ist Teil eines Ganzen und somit einer (oder mehreren) anderen, übergeordneten Größe(n) räumlich und funktional untergeordnet. So erlaubt die Anwendung von regionalen Kategorien die Auseinandersetzung mit  Prozessen von Assimilierung und Ausdifferenzierung als „dialektische Einheit“. Das Thema ist in  kulturellen sowie politischen Diskursen der Gegenwart präsent und gewinnt infolgedessen gesellschaftliche Relevanz.
Beschreiben lassen sich Regionen durch kognitive Karten, funktionale oder kulturelle Handlungsräume bzw. durch sozioökonomisches Potential. Einerseits bieten sich komparative Analysen an, andererseits spielen auch  Wechselwirkungen und Verflechtungen  zwischen den Entitäten eine Rolle. Regionalitäten bilden daher funktional variable Konfigurationen, die im historischen Wandel untersucht werden sollen.
Die Region wird in allen Teilprojekten als Gegenstand von Diskursen und sozialer Praxis betrachtet. Deshalb werden Fragen der strukturellen Regionalisierungsprozesse einerseits und der Regionalismusdiskurse andererseits in den Vordergrund gestellt: Welche Regionalitäten formieren sich in welchem Kontext, mit welchem Bezug auf welche „übergeordneten“ Entitäten? Welche regionalen Strukturen entstehen und welche Regionen werden – im diskursiven Sinne – „gedacht“? Wer sind die Akteure der Regionsbildung? Wie äußern sich Eigen- und Fremdwahrnehmungen von Region? Welchem historischen und funktionalen Wandel unterliegen diese Figurationen? Welche Legitimationskraft besitzen sie in Vergangenheit und Gegenwart?
Durch ihre historische Entwicklung in allen Perioden vom Mittelalter bis zur Gegenwart bilden  Ostmittel- und Südosteuropa den idealen Untersuchungsraum für überregionale Vergleiche. Diese Potentiale sollen in den einzelnen Vorhaben für die Zeit vom 16.-20. Jahrhundert genutzt werden. Vor dem Hintergrund eines solchen allgemeinen Fragenkatalogs öffnet sich die Thematik für inter- und transdisziplinäre Zugänge. Dies betrifft – auch mit Rücksicht auf die aktuelle Forschungsrelevanz in den betreffenden Fächern – neben Geschichte vor allem Humangeographie, Geopolitik, Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte, Ethnologie, Soziologie und Sozialgeschichte sowie Wirtschaftswissenschaft.


Teilprojekt 1

Adlige Identitäten und Repräsentationskulturen im Königlichen Preußen (16.–18. Jh.)

Bearbeiterin: Dr. Sabine Jagodzinski

Die repräsentative Darstellung von Identität und Gedächtnis war für den Adelsstand der Frühen Neuzeit existentiell, in der Region des Königlichen Preußen jedoch nicht ganz einfach. Dieser wird während der Inkorporation unter die polnische Krone (1454–1772) von der historischen Forschung eine gewisse Autonomie und ein daraus resultierendes Landesbewusstsein bescheinigt. Das Königliche Preußen war wirtschaftlich heterogen, mehrsprachig, mehrkonfessionell, ständisch und städtisch sowie von einer wechselvollen Konfliktgeschichte geprägt. Man kann also auch bezogen auf das Innere von einer „grenzüberschreitenden Region“ bzw. von sich überlappenden regionalen Bezugskategorien sprechen. Einerseits waren die Adligen eine Elite, die – in Konkurrenz oder Zusammenwirken mit städtischen Eliten in Danzig (Gdańsk), Elbing (Elbląg) und Thorn (Toruń) – auf ihre materielle wie rechtliche Absicherung bedacht war. Prestigeerhöhung und genealogische wie repräsentative „Öffentlichkeitsarbeit“ waren dazu von grundsätzlicher Bedeutung. Andererseits gab es innerhalb ihrer Gruppe wirtschaftliche, konfessionelle und sprachliche Unterschiede.
Umso wichtiger sind in dieser Hinsicht die Fragen des Forschungsbereichs nach Ausdifferenzierungen, Integration und Abgrenzung für das Selbstverständnis und die Erinnerungskulturen der adligen Geschlechter. Zeigten sich im Königlichen Preußen eine adlige „Regionalidentität“ oder ein „Kosmos regionaler Identitäten“ (Bömelburg) in visuellen, materiellen oder performativen Ausprägungen von Repräsentation und Erinnerung? Und wenn ja, wie funktionierten sie? Welcher Mittel künstlerisch-materieller Kultur bedienten sich Magnaten und wohlhabende Szlachta, um ein gedachtes oder reales, regionales oder überregionales adliges Bewusstsein darzustellen? An welche Traditionen und Erfahrungen knüpften sie Geschlechter dabei an? Konnte sich in der Region des Königlichen Preußen trotz mangelnder Einheitlichkeit und Kontinuität ein adliges „Raumgedächtnis“ (Hirschhausen) entwickeln?
Diese Fragen für die Region des „anderen Preußen“ (Friedrich) sind mit dem Potential und den Quellen der Kunst- und Kulturwissenschaft zu klären. Bislang konzentrierten sich kunsthistorische Arbeiten zu der Region auf das künstlerische Schaffen für die Städte, Bürger, Kirchen, den Hof oder den Deutschen Orden. Für den Adel und sein künstlerisch-mäzenatisches Wirken sowie die gegenseitige Beeinflussung von Bürgern und Adligen auf diesem Gebiet hingegen bestehen noch große Lücken. Zweifelsohne liegt das in Teilen an der wenig komfortablen Quellenlage, da die Adelssitze mitsamt ihren Interieurs auseinandergerissen oder zerstört wurden. Untersucht werden sollen deshalb Orte und Werke der bildenden wie angewandten Künste, die die religiösen, memorialen und repräsentativen Denk- und Funktionsräume der einflussreichen und finanzkräftigen Adelsgeschlechter prägten. Dazu gehören Adelssitze mit ihrer künstlerischen Ausstattung, Kirchen, Grabmäler, Stiftungen, Sammlungen usw. Betrachtet werden die Objekte selbst oder anhand ihrer schriftlichen Erfassung in Inventaren, Briefen oder Beschreibungen.
Methodisch werden die Forschungen zu Erinnerungskulturen sowie zu Raumdiskursen zugrunde gelegt. Aufgrund der medialen und entstehungsgeschichtlichen Vielfalt werden kunsthistorisch funktionsanalytische, kunstsoziologische, semiotische und rezeptionsästhetische Ansätze mit grundlegend ikonographischen sowie Studien zur materiellen Kultur kombiniert. Bei der Untersuchung sind Faktoren wie die verzweigten Familienstrukturen des Adels, die starke städtische Konkurrenz und das Verhältnis zu anderen Regionen zu berücksichtigen. In einer transregionalen Perspektive sollen deshalb auch Protagonisten einer Vergleichsregion wie etwa des benachbarten Herzogtums Preußen, der ähnlich strukturierten Lausitz während der sächsisch-polnischen Union oder Gebiete Kronpolens in den Blick genommen werden.

23
Apr
Vortrag
Abgesagt: Prof. Susannah Eckersley (Newcastle): Museums as democratic public space? Memory, Migration and Belonging in Germany
Mehr lesen