Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino“ – Eröffnungsveranstaltung mit Diskussion und Filmvorführung: „Marcowe migdały“ (Märzmandeln), PL 1989

Filmvorführung

Fr. 23.02.2018 | 19:00 Uhr
Prof. Dr. Magdalena Saryusz-Wolska
Kinga Wołoszyn-Kowanda
Warschau

PROGRAMM der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino“

Ort: Kino Iluzjon

Ticketpreise: 14 PLN/12 PLN (ermäßigt) je Film; Sammelticket für alle zwölf Filme: 120 PLN

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

Zur Podiumsdiskussion:

Es diskutieren:

Prof. Dr. Tadeusz Lubelski (Jagiellonen-Universität Krakau)
Prof. Dr. Piotr Zwierzchowski (Kazimierz-Wielki-Universität Bydgoszcz)
Moderation: PD Dr. Magdalena Saryusz-Wolską (DHI Warschau / Universität Łódź)

Wie kein anderes Medium spiegelt das Kino die gesellschaftliche Atmosphäre der späten 1960er Jahre wieder. Auf der Welle des kulturellen Umbruchs griffen die jungen Filmemacher zu neuen stilistischen Mitteln. In allen europäischen Ländern entstanden mutige Filme, die mit der konventionellen Ästethik brachen und kontroverse Themen zur Sprache brachten. Die politischen Ereignisse jener Zeit bewirkten auch in der Filmindustrie Umgestaltungen: In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1965 das „Kuratorium junger deutscher Film” gegründet, das neue, ehrgeizige Produktionen förderte. In Polen wiederum wurde 1968 das staatliche Filmstudio „Filmgruppen” (Zespoły Filmowe) neu organisiert, und viele Filmschaffende verließen im Zuge der antisemitischen Hetze das Land. Ähnlich tiefgreifende Veränderungen waren in der Filmindustrie anderer europäischer Länder zu beobachten. Über den Verlauf und die Folgen dieser Veränderungen diskutieren Prof. Tadeusz Lubelski und Prof. Piotr Zwierzchowski. Im Anschluss laden wir ein zur Vorführung des Films „Marcowe migdały“ (Märzmandeln) von Radosław Piwowarski – des bekanntesten polnischen Films über den März 1968.

Prof. Dr. Tadeusz Lubelski, Autor u.a. von Nowa fala. O pewnej przygodzie kina francuskiego („Nouvelle Vague. Ein Abenteuer des französischen Kinos”, 2000), Historia kina polskiego. Twórcy, filmy, konteksty („Geschichte des polnischen Kinos. Filmschaffende, Filme, Kontexte”; Erstausgabe 2009), Historia niebyła kina PRL („Eine nicht-existente Geschichte des Kinos der Volksrepublik Polen”, 2012, Bolesław-Michałek-Preis, Preis des Polnischen Instituts für Filmkunst für das beste Film-Buch des Jahres, Nominierung für den Preis „NIKE”), Mitherausgeber der monumentalen, vierbändigen „Geschichte des Kinos” (Historia kina, Verlag „Universitas”). 

Prof. Dr. Piotr Zwierzchowski, Autor u.a. von Pęknięty monolit. Konteksty polskiego kina socrealistycznego („Risse im Monolith. Kontexte des polnischen sozrealistischen Kinos”, 2005), Kino nowej pamięci. Obraz II wojny światowej w kinie polskim lat 60. („Kino eines neuen Gedächtnisses. Das Bild des Zweiten Weltkriegs im polnischen Kino der sechziger Jahre”, 2013), Vorsitzender der Polnischen Gesellschaft für Film- und Medienforschung

Zum Eröffnungsfilm:

Marcowe Migdały (Märzmandeln)
Regie: Radosław Piwowarski, 89 Min. (Original mit englischen Untertiteln)

Der bekannteste polnische Spielfilm über den März 1968 entstand in der Atmosphäre des politischen Umbruchs Ende der 1980er Jahre. 1989 gedreht, fand seine Premiere erst 1990 statt. Radosław Piwowarski porträtiert seine eigene Generation: Schüler der Abschlussklasse eines Gymnasiums, die 1968 gerade erst erwachsen werden. Die Handlung spielt in der fiktiven Stadt Lublim. Obwohl die Warschauer Ereignisse – die Studentenproteste gegen die Absetzung einer Inszenierung des Theaterstücks „Die Ahnenfeier“ nach einem Werk des Nationaldichters Adam Mickiewicz – nur im Hintergrund präsent sind, bekommen die jugendlichen Helden in der Provinz die Auswirkungen am eigenen Leib zu spüren. Tomek, Redakteur der Schülerzeitung, versucht, sich gegen die Zensur zu wehren. Die Protagonisten werden auf eine Demonstration zur Unterstützung von Parteichef Władysław Gomułka geschickt. Marcyś muss aufgrund seiner „semitischen“ Herkunft emigrieren. Die Situation wird brenzlig, als die Schüler in einem Bericht der Lokalzeitung über eine private Feier denunziert werden: Den Teilnehmern wird die Beteiligung an Orgien der „Bananenjugend“ und die Kultivierung „unpolnischer“ und „unkatholischer“ Traditionen vorgeworfen. Der Text trägt den Titel „Mit zionistischer Note“. Marcyś, der seinen Wurzeln bislang keine Bedeutung beigemessen hat, beginnt zu verstehen, dass sich seine Zeit in Lublim dem Ende zuneigt. Wenig später bestückt Tomek einen Info-Glaskasten der Schule mit einem Foto von Olas nacktem, den Partei-Oberen entgegengestrecktem Hintern. Die daraufhin eingeleiteten Ermittlungen durch die Schule sind Sinnbild für die Methoden der Volksrepublik.

Der Film verwebt Generationenkonflikt und politischen Konflikt: Die Schüler sind in der Mehrheit Idealisten, unter den Lehrern und Eltern hingegen fehlt es nicht an Zynikern. Außergewöhnlich ist vor diesem Hintergrund die Figur von Tomeks Großvater, der im Ersten Weltkrieg für Polens Unabhängigkeit gekämpft hat und nun Radio Free Europe hört. Die Protagonisten leben wie in einer Warteschleife. Sie erleben ihre erste große Liebe, berauschen sich auf Privatfeiern und tanzen Rock’n Roll. Doch auch in der polnischen Provinz holt die Politik sie ein, der sie hilflos gegenüberstehen. Zusammengefasst wird die Tragödie der Generation in den Worten des Liedes „Unsere Jugend ... die nicht allzu lange bleibt“, das die Szene von Marcyś Abreise untermalt. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

 

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

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