Prof. Dr. Friedrich Battenberg Wiese (Darmstadt): "Zwischen Toleranz und Repression. Zur Geschichte der Juden im Alten Reich (16. - 17. Jahrhundert)"

Vortrag

Di. 24.11.2009 | 18:00 -
Di. 24.11.2009 | 20:00 Uhr
Warschau

Das 16. und 17. Jahrhundert ist für die – zumeist aschkenasischen – Juden des Heiligen Römischen Reiches eine Zeit struktureller Umbrüche. Aus fast allen Städten des Reiches und zudem aus vielen Territorien sind die alteingesessenen Juden entweder vertrieben oder wirtschaftlich so bedrängt worden, dass ihnen keine Lebensgrundlage mehr blieb. Eine Auswanderungsbewegung nach Polen-Litauen und nach Oberitalien setzte ein und ließ die ehemals urbane Bevölkerung auf einen geringen Rest in den Städten zusammenschließen. Lediglich in wenigen Städten wie Prag, Frankfurt am Main, Friedberg, Worms und Metz blieben bedeutender jüdische Gemeinden, während sich auf dem Land nur sehr langsam neue Schwerpunkte der Siedlung herausbilden konnten. Vier Strukturelle Änderungen bahnen sich ab dem 16. Jahrhundert an:

1. Die enge Bindung der Juden an das Reichsoberhaupt („Kammerknechtschaft“) löst sich trotz der Tatsache, dass der Kaiser oberster Schutzherr blieb und Privilegien an die Juden vergab, zugunsten einer territorialen Bezogenheit auf. Tendenziell wurden die alten Schutzbeziehungen zugunsten einer stärkeren Einbindung in die rechtlich neu konstituierten Landesfürstentümer relativiert. Die Grundlagen für die Landjudenschaften wurden gelegt. Lediglich in Nischen wie in ritterschaftlichen Ganerbschaften blieb der Reichsbezug sichtbar.
2. Die weitgehende „Atomisierung“ jüdischer Siedlung führte dazu, dass eine größere Bereitschaft entstand, sich über die – weiterhin bedrohten – Gemeinden hinaus Einigungsbestrebungen sichtbar wurden. Josel von Rosheim als „Fürsprecher“ der Judenheit im Reich, verschiedene „Reichsrabbiner“ und schließlich die Frankfurter Versammlung von 1603 unter Führung der Gemeinden Frankfurt & Worms signalisieren ein Bedürfnis nach selbstorganisiertem Schutz auf Reichsebene, der aber im Rahmen der Superioritas Territorialis  keinen dauerhaften Bestand hatte.
3. Als cives Romani im Sinne von Untertanen des Kaisers wurden die Juden nach der vom Reichskammergericht übernommenen Lehre Johannes Reuchlins im Prozessrecht sowie im Geschäftsverkehr den Christen gleichgestellt, was Voraussetzung dafür wurde, dass sie den landesrechtlichen Normen zugeordnet wurden. Die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Christen und Juden führte dazu, dass berechenbare und verlässliche Grundlagen der Existenz geschaffen werden konnten.
4. Das Aufbrechen der mittelalterlichen Kircheneinheit durch die Entstehung einer neuen Konfession berührte zunächst nicht die von den Kirchenvätern herrührende eschatologische Einordnung der Juden als angebliche Mörder Christi, die nun zu ewiger Knechtschaft verdammt sind. Wohl aber wurden an die neue Lehre Luthers Hoffnungen im Sinne einer neuen Diskurskultur geknüpft. Zwar schreckte Luther und nach ihm die orthodoxe Geistlichkeit vor den Folgen zurück, was zu einer Fortsetzung der alten Judenfeinschaft der Kirche führte. Doch wurden jetzt, im Protest etwa gegen die alten Ritualmordbeschuldigungen, Zeichen der Annäherung und Toleranz sichtbar. Die konfessionalisierte Obrigkeit begann mehr und mehr Juden aus als „nützliche Untertanen“ in das eigene Staatswesen zu integrieren, ohne Rücksicht auf die fortbestehenden Bedenken der Geistlichkeit.

Friedrich Battenberg (geb. 1946 in Erbach im Odenwald); Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main, Promotion zum Dr. iur. ebenda 1973, Referendariat mit Assessorexamen am Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Referendariat an der Archivschule (Institut für Archivwissenschaft) Marburg, Lehrauftrag Historische Hilfswissenschaften an der Technischen Hochschule Darmstadt, Habilitation ebd. 1984 mit Venia Legendi in den Fächern Mittelalterliche und Neuere Geschichte, seit 1990 außerplanmäßiger Professor für Geschichte ebd. Seit 1982 außerdem Archivdirektor am Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, seit 1997 als Leitender Archivdirektor dessen Leiter. Schwerpunkte der wissenschaftlichen Tätigkeit: Geschichte des Judentums in Spätmittelalter und Frühneuzeit, Sozialgeschichte und Geschichte der kaiserlichen Gerichtsbarkeit in der Vormoderne. Gründer und Mitherausgeber der Halbjahreszeitschrift „Aschkenas. Zeitschrift für die Geschichte und Kultur der Juden“ sowie der wissenschaftlichen Reihe „Quellen und Studien zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“. Wichtige Veröffentlichungen: „Das Europäische Zeitalter der Juden“, Bände 1 und 2, 2. Aufl. Darmstadt 2000 [in polnischer Übersetzung; Zydzi w Europie. Proces rozwoju mniejszosci zydowskiej w niezydowskim srodowisku europy, Breslau/Warschau/Krakau: Ossolineum 2008]; „Herrschaft und Verfahren. Politische Prozesse im mittelalterlichen römisch-deutschen Reich“, Darmstadt 1995; „Die Juden im Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts“, München 2001 (=Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 60); „Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches“, Wiesbaden 1987.

 

Kommentar: Dr. Igor Kąkolewski (Niemiecki Instytut Historyczny / Muzeum Historii Żydów Polskich)

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