Prof. Dr. Heinrich August Winkler, Abschied von der deutschen Frage. Rückblick auf einen langen Weg nach Westen

Vortrag

Mi. 05.12.2007 | 18:00 -
Mi. 05.12.2007 | 20:00 Uhr
Warschau

Das DHI Warschau lädt ein zum Vortrag von Prof. Dr. Heinrich August Winkler, "Abschied von der deutschen Frage. Rückblick auf einen langen Weg nach Westen."

Am Gespräch nehmen teil:

Adam Krzemiński, Publizist der Wochenzeitschrift "Polityka"
Prof. Dr. Robert Traba, Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin

Moderation:
Prof. Dr. Klaus Ziemer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau
Das Gespräch wird simultan ins Polnische und ins Deutsche gedolmetscht
Fast zwei Jahrhunderte lang hat die "deutsche Frage" die Deutschen, Europa und die Welt beschäftigt: von der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Der Vortrag widmet sich der Frage, warum Deutschland sehr viel später als Großbritannien und Frankreich ein Nationalstaat und noch später eine Demokratie wurde. Es bedurfte der „deutschen Katastrophe“ der Jahre 1933-1945, um die antiwestlichen Ressentiments der deutschen Eliten und großer Teile der deutschen Gesellschaft zu überwinden. Die deutsche Frage betraf seit dem 19. Jahrhundert erstens das Verhältnis von Einheit und Freiheit, zweitens die territoriale Ausdehnung des deutschen Nationalstaates und drittens sein Verhältnis zum übrigen Europa. In allen drei Hinsichten ist die deutsche Frage gelöst – aber erst seit der Wiedervereinigung von 1990.

Mit Heinrich August Winkler, dem Autor von "Der lange Weg nach
Westen", spricht Adam Krzemiński

  • Der polnische Ministerpräsident warnt Europa, dass Deutschland wieder einer falschen Richtung folgt. Sie dagegen weisen nach, dass Deutschlandaufgehört hat, gefährlich zu sein, weil es mittlerweile ein völlig demokratisches Land ist, das endlich im Westen angekommen ist. Vielleicht aber reist es durch die Geschichte mit einer Rückfahrkarte?
    Heinrich August Winkler: Und wohin sollte es zurückkehren? In Deutschland gibt es keine ernsthafte politische Kraft, die wieder zu einer
    Schaukelpolitik zwischen Ost und West zurückkehren möchte. In der
    verzweifelten Lage Deutschlands nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg gab es noch Illusionisten, die das wollten.
  • Irgend etwas ist ja von dieser Schaukel geblieben. Putin - den Schröder
    einen "lupenreinen Demokraten" nannte - hatte in Deutschland eine bessere Presse als Bush. Gegenüber dem autokratischen Russland sind viele Deutsche nachsichtiger als gegenüber der amerikanischen Demokratie. HAW: Das glaube ich nicht. Die Kritik an der derzeitigen amerikanischen Administration war in Deutschland gerade deswegen so scharf, weil die USA - genauso wie Polen - für die Deutschen ein Teil des Westens ist, nicht aber Russland.
  • Projiziert also Jarosław Kaczyński nur seine eigenen geschichtlichen
    Vorurteile in die Zukunft? HAW: Möglicherweise fällt er nur einer irreführenden Logik der scheinbaren historischen Analogien zum Opfer. Motto: Wenn etwas schon einmal passiert ist, dann kann es sich jederzeit erneut wiederholen. Das ist ein populäres Denken, das einer präzisen Wahrnehmung der Wirklichkeit im Wege steht. Die Verlautbarungen des polnischen Ministerpräsidenten finden aber keine Bestätigung in der Realität. Und kaum jemand in Europa teilt seine Einschätzung. Den Meinungsumfragen nach teilt sie auch die Mehrheit der Polen nicht. Abgesehen davon: Würden die Deutschen sich tatsächlich vom
    Westen abwenden, würden sie vor allem sich selbst schaden.
  • Versucht Deutschland nach dem gescheiterten Griff nach der Weltmacht von 1914 sich jetzt eine Hegemonie in Europa zu verschaffen, indem es wieder eine "neokoloniale" Haltung gegenüber ihren östlichen Nachbarn einnimmt, wie unsere Nationalisten behaupten? HAW: Nein. Die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten der EU sind nur dann legitim, wenn sie nicht im Widerspruch zu den Interessen der Union stehen. Und die legt heute keine Nation allein fest, weder die deutsche, noch die polnische, und auch kein einziger Politiker allein - weder ein deutscher noch ein polnischer...
  • "Den langen Weg nach Westen" haben Sie 2000 abgeschlossen. Doch wir sind heute in einer ganz anderen Ära. Vielleicht bedeutet der 11. September 2001 tatsächlich ein "Ende der Geschichte", jener Geschichte, die Sie beschreiben des deutschen Weges nach Westen? HAW: Der 11. September ist keineswegs eine solche Zäsur in der deutschen Geschichte wie das Jahr 1945 oder 1990. Ich schließe mein Buch mit der These ab, dass das vereinte Deutschland Zeit brauchte, um sich mit der wiedergewonnenen Souveränität zu versöhnen. In den 90er Jahren dominierte in Deutschland das linke, pazifistische Denken, wonach Deutschland angesichts seiner Vergangenheit und seiner Schuld am Holocaust eines Sonderstatus bedarf und an keinen militärischen Aktionen jenseits des NATO-Gebietes teilnehmen darf. Doch bereits im Jahre 1995 befürwortete eine ernstzunehmende Gruppe von SPD-Abgeordneten die Beteiligung deutscher Soldaten an den NATO-Aktionen in Bosnien und Herzegowina. Und 1998 zeigten die Grünen und die SPD, dass sie imstande sind, linke Illusionen vom
    Sonderstatus Deutschlands fallenzulassen. Heute ist die Bundeswehr im
    Kosovo, in Mazedonien, in Afghanistan präsent... Das bestätigt meine These von der Okzidentalisierung Deutschlands. Ein zusätzlicher Beweis ist das Staatbürgerschaftsgesetz von 1999, das mit der wilhelminischen Auffassung der Nation als einer Blutsgemeinschaft brach und den Immigranten - auch den muslimischen - den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert.
  • Hat etwa die Linke die Reste der alten Distanz Deutschlands zum Westen, jenes berüchtigten deutschen "Sonderweges", gehütet?
    HAW: In gewisser Weise ja. Es gab nämlich nicht nur die klassische,
    antiwestliche Haltung der deutschen Rechten, die 1945 mit einer Katastrophe endete. Nach dem Krieg gab es auch zwei linke Varianten vom deutschen Sonderweg. Die eine war der völlig ahistorische Internationalismus, der den Deutschen in der DDR aufgezwungen wurde. Und die zweite war die originäre Geschichtsphilosophie der westdeutschen Intellektuellen, die die Bundesrepublik für eine "postnationale Demokratie unter Nationalstaaten" hielten. Bis zu einem gewissen Maße war das auch zutreffend. Doch das vereinte Deutschland ist keine "postnationale Demokratie" mehr, sondern ein
    postklassischer, demokratischer Nationalstaat, so wie auch die anderen
    Nationalstaaten innerhalb der EU.
  • Und gerade diese Änderung der Qualifizierung betrachten unsere
    rechtsgerichteten Kommentatoren sehr misstrauisch. Sie behaupten, dass gerade das deutsche Engagement im Kosovo und in Afghanistan den deutschen Drang zu einer dominierenden Rolle in Europa belegen.
    HAW: Aus den USA, und nicht nur von dort, hört man den gegenteiligen
    Vorwurf, die Deutschen drückten sich (etwa im Hinblick auf den Süden
    Afghanistans). Im Nein zu einer deutschen Hegemoniepolitik sind sich alle
    demokratischen Parteien einige. Und bekanntlich ist in keinem anderen
    westlichen Land die parlamentarische Kontrolle der Verwendung der Armee so genau wie in Deutschland. So ist es auch im Falle des Einsatzes in Afghanistan.
  • Wann in der deutschen Geschichte begann der deutsche "Sonderweg"? Ihr Buch fangen Sie mit einem merkwürdigen Satz an. "Am Anfang war das Reich". Ein ähnliches Buch über den polnischen Weg nach Westen müsste anders beginnen: Am Anfang war die Christianisierung. Das sind zwei völlig unterschiedliche Zugänge zur eigenen Geschichte.
    HAW: Diesen Satz kann man wirklich schwer in andere Sprachen übersetzen. Ich las vor ein paar Jahren in der englischen Übersetzung eines Vortrags von mir die Variante: "At the beginning was the Empire.".
  • Ähnlich beginnt die polnische.Übersetzung des "Langen Weges"...
    HAW: "Empire" ist natürlich irreführend. Die Franzosen sprechen meistens vom Saint-Empire, was schon genauer ist. Denn das Reich, oder das Heilige Römische Reich. 
  • ...dem man erst im 15. Jh. die deutsche Nation hinzuschrieb. HAW: .verstand sich als ein europäisches Gebilde, das eine
    heilsgeschichtliche Aufgabe hatte: das Christentum im Namen der Kirche zu verteidigen. Wegen der Verteidigung des Glaubens beanspruchten die Kaiser für sich ein protokollarisches Primat über die anderen Monarchen, was - besonders in der Stauferzeit - Ablehnung in England und Frankreich
    hervorrief, weil die Rechtsansprüche der Kaiser sehr weltliche Dimensionen annahmen. Doch der Reichsmythos ist erst im 20. Jh. zur vollen Blüte gelangt, nach der Niederlage des II. Reiches im I. Weltkrieg. Erst nach 1918 erinnerte man sich der übernationalen Sendung Deutschlands und interpretierte sie über eine zweifache Konfrontation - mit dem demokratischen Westen und dem bolschewistischen Russland. In der Weimarer Republik ist die Reichsidee zur Ideologie der deutschen Rechten geworden, auch wenn sie früher schon einige Vorläufer hatte.
    Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass die Deutschen viel
    später als Franzosen oder Briten den Nationalstaat erreichten und noch
    später die Demokratie akzeptierten. Und diese Verspätung hing eben mit der Existenz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zusammen. Nachdem es 1806 von Napoleon liquidiert worden war, entstand ein eigenartiges psychologisches Vakuum, in dem sich nach den Befreiungskriegen und verstärkt seit der Rheinkrise von 1840 ein Drang zum deutschen Nationalstaat und zugleich zum Verfassungsstaat bemerkbar machte. Die Revolution von 1848 löste weder die Einheits- noch die Freiheitsfrage. Bismarck hat die Einheitsfrage 1871 auf dem Weg einer Revolution von oben gelöst. Die Freiheitsfrage blieb ungelöst.
  • Für die zweite Besonderheit des deutschen Weges halten Sie die
    Reformation. HAW: In ihren theologischen Ursprüngen war die Reformation eine deutsche Revolution, in ihren politischen Folgen aber war sie eine angelsächsische Revolution. Man darf sie nicht nur auf Luther reduzieren. Man muss auch da die kalvinistischen Strömungen sehen, die weniger obrigkeitshörig waren.
  • Die im 16. Jh. auch in Polen stark waren. HAW: Als eine wichtige historische Episode. In Deutschland dagegen hatte die Bikonfessionalität - der protestantische Norden und der katholische Süden und Westen - nicht nur den verheerenden Dreißigjährigen Krieg im 17. Jh. zur Folge, sondern auch eine schöpferische Spannung. Und bis ins 20. Jh. hat sie die Struktur der deutschen politischen Parteien geprägt. Erst 1945 entstand die erste bikonfessionelle Partei - die CDU. In der Weimarer Republik war das Zentrum eine katholische Partei, während die konservativen und liberalen Parteien protestantisch waren. Ohne die Folgen der Reformation kann man schlecht die Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jh. verstehen. Die Bindung des Bürgertums an den Obrigkeitsstaat hängt damit zusammen, dass Luther in den Landesfürsten Schutzherren des neuen Glaubens sah. Er hat den Summepiskopat geschaffen, das heißt, die Landesherren wurden zu obersten Bischöfen gemacht.
  • Für die dritte Besonderheit der deutschen Geschichte halten sie die
    Konkurrenz Preußens und Österreichs um die Hegemonie in Deutschland... HAW: Wegen eben dieser Konkurrenz zerschlug sich in Deutschland die demokratische Revolution der Jahre 1848/49. Zuerst konnten sich weder die Liberalen noch die Konservativen ein Deutschland ohne Österreich vorstellen. Erst infolge der Ereignisse von 1848 vergegenwärtigten sich die Abgeordneten der Nationalversammlung, die in Frankfurt tagte, dass die großdeutsche Lösung - mit Österreich - einen Zerfall der Habsburgermonarchie bedeuten würde und aus diesem Grund für Wien nicht akzeptabel war. Die kleindeutsche Lösung, unter preußischer Führung, war demnach die Folge eines schmerzlichen Interessenkonfliktes. Doch im Frühling 1849 war sie noch nicht zu haben. Einerseits wollte der preußische König kein Kaiser "von Volkes Gnaden" werden. Andererseits hätte er das nur gegen den Widerstand Russlands und Österreichs werden können - und dies hätte einen europäischen Krieg bedeutet.
  • Im "Langen Weg..." weisen Sie mehrmals auf die Verbindung der "deutschen Frage" - welche Vereinigung Deutschlands? Mit wem? Gegen wen? - mit der "polnischen Frage" hin. Worauf beruhte sie - aus der deutschen Perspektive? HAW: Zuerst war der Aufstieg Preußens unmittelbar mit dem Niedergang Polens verbunden, was viele Deutsche immer noch nicht wahrhaben wollen.. Abgesehen davon hing die "polnische Frage" von den drei europäischen Teilungsmächten,
    Russland, Österreich und Preußen, ab, die Nutznießer der Liquidierung des polnischen Staates waren, und damit war sie auch weitgehend eine europäische Frage. Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Wiener Kongress 1815 die Folgen der Teilungen Polens sanktionierte, einen langfristig nicht haltbaren Zustand, wovon sich Europa während der polnischen Revolution 1830/31 und während des Januaraufstandes 1863 überzeugen konnte.
  • Diese Beobachtung betrifft das 19. Jh. Mir ging es um ältere Vergleiche
    des deutschen und des polnischen "Sonderweges", des Reiches und der
    polnisch-litauischen Rzeczpospolita. Welche Schwächen haben beide
    staatlichen Strukturen fast gleichzeitig zu Fall gebracht und die beiden
    "Fragen" ausgelöst? In Ihrem Buch schreiben Się, das das Heilige Römische Reich gar kein richtiger Staat war - und die Rzeczpospolita?
    HAW: Nach den damaligen Rechtsnormen war die Rzeczpospolita auf jeden Fall sehr viel mehr ein Staat als das Reich. Sie war eine Wahlmonarchie, die sich Republik nannte. Wenn ich nach den Ursachen des polnischen "Sonderweges" suchen sollte, der den Niedergang der Rzeczpospolita zur Folge hatte, würde ich wahrscheinlich an erster Stelle die politische Lähmung durch das "liberum veto" nennen. Das mindert aber nicht die Schuld der Teilungsmächte an der polnischen Tragödie.
  • Mussten dann im 19. und 20. Jahrhundert die deutsche und die polnische
    Fragen in so krassem Konflikt zueinander stehen? Heute berufen wir uns gerne auf das Hambacher Fest 1832, wo auch Polen gefeiert wurden...
    HAW: Die Polenbegeisterung während der polnischen Revolution 1830/31 erwies sich als von sehr kurzer Dauer. In der Revolution von 1848/49 kam ein Konflikt zwischen deutschen und polnischen Nationalinteressen zum Vorschein. Die Gründung des Zweiten Reiches 1871 löste die "deutsche Frage". Niemand sprach mehr über sie in Europa. Doch ein Teil des Kaiserreichs der Hohenzollern war das Großherzogtum Posen, in dem die Polen eine Mehrheit stellten. Und als im I. Weltkrieg die Westmächte - in Anerkennung der berechtigten moralischen Ansprüche auf eine Lösung der "polnischen Frage" - den Polen eine Souveränität im Sinne einer nationalen Selbstbestimmung versprachen, konnte man in Deutschland schwer normative Argumente dagegen finden. Man griff also ausschließlich zu den Argumenten der Macht. Und nach 1918 lehnte man gar die Legitimität des wiedererstandenen polnischen Staates ab.
  • Und das ist eine Schlüsselfrage. Warum gab es damals in Deutschland keinen Willen zu einer ernsthaften Verständigung mit Polen, es trotz der
    schmerzlichen Territorialverluste als einen alt-neuen Nachbarn zu
    akzeptieren? Das hätte doch den beiden Staaten eine neue Chance in
    Mitteleuropa gegeben? HAW: Das ist wahr. Es gab in Deutschland keine politische Grupierung, die ein derartiges Programm verfolgt hätte. Auch die SPD forderte eine Revision der deutsch-polnischen Grenze, zumindest in der Region des "polnischen Korridors". In der Weimarer Republik gab es einen revisionistischen Konsens, der sich primär gegen Polen richtete, nachdem Deutschland in Locarno die Westgrenze, also den Verlust von Elsass und Lothringen, anerkannt hatte. In Deutschland herrschte die Wahrnehmung, dass bei der Festlegung der deutsch-polnischen Grenze das Prinzip der Selbstbestimmung krass verletzt wurde, insbesondere in Oberschlesien - die Grenze wurde nach den polnischen Aufständen gezogen und nicht entsprechend der Volksabstimmung, die es im
    übrigen im "Korridor" nicht gab. Sie haben aber Recht, dass es in der
    Weimarer Republik kaum Anhänger einer Verständigung mit Polen gab. Die andere Frage ist, wie viele Anhänger einer solchen Verständigung es damals in Polen gab.
  • In gewissem Maße Piłsudski, jener polnische Bismarck...
    HAW: .der aber zeitweilig auch an einen Präventivschlag gegen Deutschland dachte, bevor er 1934 einen Nichtangriffspakt mit Hitler abschloß. Das bestimmende Moment des deutsch-polnischen Verhältnisses in der Zwischenkriegszeit war die Kollision zweier Nationalismen, was man psychologisch leicht erklären kann.
  • Musste also erst der schreckliche Zweite Weltkrieg vollendete Tatsachen
    schaffen, damit die beiden Nachbarn sich vertragen können? Dieser Prozess begann in den 60er Jahren und ist bis heute nicht ganz abgeschlossen. Brauchten wir wirklich so viel Zeit? HAW: Offenbar bedurfte es der "deutschen Katastrophe" der Jahre 1933 bis 1945, um die westliche Demokratie in Deutschland dauerhaft heimisch zu machen. Was das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen angeht, so kann
    man vielleicht sagen, daß die deutsche Teilung ein notwendiger Umweg zur Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze von 1945 war. Meine These ist jedenfalls: Die Deutschen waren solange nicht reif für die
    Wiedervereinigung, solange sie nicht bereit waren, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Als man Mitte der 50er Jahre in einer Umfrage wissen wollte, ob Bundeskanzler Adenauer ein eventuelles sowjetisches Angebot annehmen solle, Deutschland in den Grenzen von 1945, also ohne Ostpreußen, Pommern oder Niederschlesien, zu vereinigen, antworteten zwei Drittel mit Nein, und nur 10 Prozent mit Ja. Als 1970 Willy Brandt den Warschauer Vertrag, der die westliche Grenze Polens anerkannte, unterschrieb, hatte er nur eine relative Mehrheit hinter sich. Erst 1990 bestritt praktisch kaum noch jemand - mit Ausnahme von Stimmen aus dem Bund der Vertriebenen - die Anerkennung der
    Oder-Neiße-Grenze als Vorbedingung der Wiedervereinigung Deutschlands. Erst damals wurden die deutsche und die polnische Frage gemeinsam gelöst.
  • Woher dann die heutigen Spannungen? Unsere Rechten behaupten, dass die Vereinigung eine Renationalisierung in Deutschland zur Folge hatte.
    HAW: Ich sehe sie nicht. Und seit der Entstehung der Großen Koalition 2005 stelle ich eine klare Hinwendung Deutschlands zu unseren unmittelbaren Nachbarn und eine stärkere Berücksichtigung der kleineren und mittleren EU-Mitgliedstaaten fest als zur Zeit der früheren Regierung. Für Gerhard Schröder standen die deutsch-französischen Beziehungen und die deutsch-russischen Beziehungen so sehr im Vordergrund, daß das Verhältnis zu Polen und den baltischen Staaten darunter litt.
  • Doch diese Beziehungen verschlechterten sich tatsächlich. Welche Seite hat das mehr verschuldet? HAW: Auf der deutschen Seite beging sicherlich die CDU/CSU einen Fehler, indem sie sich nicht der Idee des Zentrums gegen Vertreibungen entgegenstellte. Das entsprang allerdings einer Kontinuität der christdemokratischen Politik, die man auch würdigen muß - die Vertriebenen zu integrieren, heranzuziehen und sie nicht den Nationalisten und irgendeiner rechten Partei in die Arme zu treiben. Doch Angela Merkel hat im Sejm auch unmißverständlich gesagt,, dass es in Deutschland keine Uminterpretation der Geschichte geben werde. Das ist auch die Haltung des Bundestages. Auf der polnischen Seite dagegen fällt es schwer, Gruppierungen zu ignorieren, die antideutsche Ressentiments schüren. Sie nutzen die Organisationen deutschen Vertriebenen als ein Element im politischen Spiel. Ich glaube jedoch nicht, dass der Rückhalt dieser Parteien in der polnischen
    Gesellschaft in den letzten Jahren tatsächlich größer geworden ist.
    Wichtiger als nationalistische Ressentiments einiger polnischer Politiker
    scheint mir die Angst vor dem Verlust eines Teils der von Polen gerade
    wiedergewonnenen Souveränität zugunsten einer EU zu sein, die ein
    supranationaler Verbund von Staaten ist, die ihre Souveränität zum Teil
    gemeinsam, zum Teil sogar über supranationale Institutionen ausüben. Diese Ängste gibt es auch in anderen neuen Mitgliedstaaten der EU. Und die Altmitglieder sollten sehr behutsam mit diesen Ängsten umgehen. Deswegen finde ich auch, dass der Begriff "europäische Verfassung" nicht wirklich durchdacht war. Er musste Widerstände nicht nur in Polen oder Großbritannien hervorrufen. Wenn man die für das Funktionieren der EU notwendigen institutionellen Reformen durchführen will, darf man solche Ängste nicht provozieren. Hinter der Furcht, Souveränität zu verlieren, stecken Identitätsängste. In Polen ist das psychologisch verständlich. Mehr als hundert Jahre lang wurden die polnischen Eliten durch die Teilungsmächte blockiert. Während des II. Weltkrieges waren sie Hauptopfer der Vernichtung der Souveränität Polens durch Nazi-Deutschland und die UdSSR. Und nach dem Krieg standen sie unter
    dem ständigen Druck der sowjetischen Hegemonie. Ähnliche Wunden gibt es auch in anderen ostmitteleuropäischen Ländern.
  • Ihre Ich-Schwäche überdeckt die polnische Rechte durch ein Festklammern an der Vergangenheit und eine Assoziierung der EU mit den Teilungsmächten? HAW: So sieht es aus. Die EU zwingt aber niemandem eine künstliche Identität auf. Sie will die Nationen nicht überwinden, sondern überwölben. Wir, die Zivilgesellschaften und Bürger der Mitgliedstaaten, müssen uns die Frage stellen, was uns miteinander verbindet - trotz allem, was uns voneinander trennt. Was macht unsere gemeinsame Geschichte aus? Und aus diesem Gesichtspunkt heraus ist eine kritische Analyse unserer eigenen Nationalgeschichten in europäischer Absicht ein geradezu kategorischer Imperativ für das, was ich ein "europäisches Wir-Gefühl" nenne.
  • We, the people of Europe? Vorerst befindet sich Europa irgendwie im
    Rückwärtsgang einer "Vergangenheitspolitik". In den meisten EU-Ländern kehrt eine komische Heroisierung der eigenen nationalen Vergangenheit wieder. In Chiracs Frankreich lobte man wieder die zivilisatorischen Leistungen des französischen Kolonialismus und schwieg sich aus über die französische "Unterlassungssünde" in der Zwischenkriegszeit.
    In Deutschland wandte man sich den deutschen Kriegleiden - den
    Vertreibungen, Vergewaltigungen und den Bombenopfern - zu. In Portugal gilt Salazar als der größte Politiker in der Geschichte des
    Landes. Und in Polen haben wir ein Museum des Warschauer Aufstandes, in dem es keine Dokumentation der großen Debatten über Sinn und Unsinn dieses Kraftaktes gibt, die ein halbes Jahrhundert lang im Lande und in der Emigration geführt wurden und die polnische politische Kultur irreversibel verändert haben. Die Vergangenheitspolitik kehrt in die EU-Länder zurück in Form einer Emotionalisierung und einer "Lackierung" der nationalen Egoismen. HAW: Gerade deswegen ist es an der Zeit, über die engen nationalen Perspektiven hinauszugehen. Wenn die EU in Zukunft mit einer Stimme sprechen soll, dann müssen ihre Bürger ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Solidarität entwickeln. Die Erweiterung der EU ging allzu sehr jener Vertiefung voraus, die nicht
    nur eine Reform der Institutionen und Entscheidungsprozesse bedeutet,
    sondern auch eine Aufgabe der Zivilgesellschaft ist. Die politische Klasse
    allein kann niemandem das notwendige "europäische Wir-Gefühl" Überstülpen. Auch der Verfassungsvertrag hat es nicht erreicht. Das Nachdenken darüber, was uns voneinander über Jahrhunderte unterschied und was uns miteinander verbindet, ist vor allem eine Herausforderung an Intellektuelle, Publizisten und Wissenschaftler.
    Schauen wir uns die gemeinsame Rechtstradition in Europa an. Sie hängt mit der frühesten Gewaltenteilung zusammen, der Trennung der kirchlichen Gewalt von der weltlichen, die es nur im Bereich der Westkirche, nicht aber in den Gebieten der orthodoxen Kirche gab. Von diesem Gesichtspunkt aus hatte ich nie Zweifel, dass alle ostmitteleuropäischen Staaten, die 2004 der EU beitraten, dem alten Westen angehören. Rumänien und Bulgarien dagegen gehören nicht dazu. Und das ist der Grund, warum sie offensichtlich größere Schwierigkeiten mit der Öffnung zur westlichen politischen Kultur haben als die Staaten, die nicht nur die Rechtskultur miteinander teilen, sondern auch bestimmte Elemente des typisch westlichen Pluralismus.
  • Diese Betonung der Gemeinsamkeiten in der Vielfalt der Ungleichzeitigkeiten setzt allerdings eine Kenntnis der National- und
    Kulturgeschichten Ostmitteleuropas voraus. Als ich jedoch in Deutschland
    erwähnte, dass in Polen das königliche Privileg neminem captivabimus etwa 250 Jahre vor dem britischen habeas corpus unterzeichnet wurde, bekam ich wütende Widersprüche: Dies sei ein Beispiel von polnischem Chauvinismus, Europa einreden zu wollen, dass die Polen die Demokratie erfunden hätten. Das ist natürlich Unsinn. Ich kenne auch die Unterschiede. Das polnische Privileg galt nur für den Adel, das britische Gesetz dagegen - für jeden Untertan der britischen Krone. Hier ging es nur um die Demonstration, dass Polen und Litauen zum Westen gehörten.  HAW: .Wie ja überhaupt der Rechtsstaat in Europa älter ist als die Demokratie. Das ist auch einer der Gründe, warum ich nach dem "Langen Weg nach Westen" ein Buch unter dem Arbeitstitel "Der lange Weg des Westens" schreibe. Die - von Ihnen erwähnte - Ungleichzeitigkeit der Entwicklung ist einer der wesentlichen Charakterzüge des Westens. In ihr verbirgt sich der dialektische Zusammenhang zwischen dem, was uns trennt, und dem, was uns
    verbindet. Das macht es uns möglich, die Nationalgeschichten im Kontext der gemeinsamen Geschichte des Westens zu sehen.
  • Und nun zu den schwersten Kanonen. Ihr Buch erscheint in Polen
    gleichzeitig mit der großen Geschichte Deutschlands von Golo Mann, der auf 1000 Seiten beweist, dass Hitler keineswegs eine unvermeidliche Quintessenz der deutschen Geschichte war. Er war eher ein Zufall, oder ein Bündel von Zufällen, als eine Notwendigkeit. Sie - ein halbes Jahrhundert nach Golo Mann - vertreten eine ähnliche These, mit dem Unterschied, dass Sie über zusätzliche Anker verfügen, die der Sohn von Thomas Mann noch nicht hatte, nämlich den Sieg der westlichen Werte im vereinten Deutschland. Was war dann dieses III. Reich, wenn nicht ein Destillat der deutschen "Daseinsverfehlung"? Nur ein diabolischer Zufall, der auch anderen Ländern passieren kann? HAW: Das III. Reich war weder ein Zufall noch eine unabdingbare Notwendigkeit. Hitler musste nicht an die Macht kommen. Es war aber auch kein Zufall, dass er Reichskanzler wurde. Die Weichen wurden vor genau 75 Jahren gestellt, im Mai/Juni 1932. Wäre damals der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning als Reichskanzler nicht entlassen und die vorgezogenen Reichstagswahlen nicht ausgeschrieben worden, dann hätte es Wahlen erst wie vorgesehen im Herbst 1934 gegeben. Für diesen Zeitpunkt durfte man mit einer konjunkturellen Erholung und sinkenden Arbeitslosenzahlen rechnen. Kommunisten und Nazis hätten keinen solchen Erfolg wie am 31. Juli 1932 gehabt. Der damals gewählte Reichstag hatte eine klare Mehrheit der Gegner der Demokratie - der Nazis, der Kommunisten und
    der Deutschnationalen. Aber auch danach musste es keineswegs zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kommen. Hindenburg entschied sich im Januar 1933 nur deswegen für diese Lösung, weil ihn die Camarilla der hochkonservativen Kräfte dazu drängte, an ihrer Spitze die preußischen Rittergutsbesitzer, die - wie kaum jemand sonst in der Machtelite - die erste deutsche Republik bekämpften, und zwar sehr erfolgreich. Ökonomisch waren sie schwach, doch wegen ihres Zuganges zu Hindenburg waren sie politisch stark. Und das wiederum war kein
    Zufall, sondern eine Konsequenz der bewußten Schutzzollpolitik Bismarcks, die den preußischen Junkern für lange Zeit Privilegien auf Kosten der Gesellschaft sicherte. Diese beiden Beispiele zeigen, dass Hitlers Machtübernahme gar nicht unausweichlich war. Sie hatte aber ihre konkreten Ursachen in der sozialen und politischen Geschichte Deutschlands. Und man kann natürlich die Popularität Hitlers ohne Kenntnis der Stimmung in der Weimarer Republik, ohne die Lüge von der deutschen Unschuld am Ersten Weltkrieg und ohne den allgemeinen Nationalismus nicht verstehen... 
  • Im damaligen Europa waren die antidemokratischen Emotionen allgegenwärtig: von Mussolini und Salazar, bis Smetona, Antonescu, oder Piłsudski. Trotzdem war Hitler - mit seiner genozidalen Energie - eine einmalige Erscheinung, vergleichbar vielleicht nur mit Stalin.
    HAW: Das wiederum war die Folge einer ungleichzeitigen - da haben wir das Wort wieder - Demokratisierung Deutschlands. Schon Bismarck führte das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer ein. 1867 im Norddeutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich. Die Deutschen hatten damit das Recht der politischen Teilhabe. Ihre Regierung war aber nicht dem Parlament, sondern nur dem Kaiser verantwortlich. Die Parlamentarisierung Deutschlands erfolgte erst nach der Verfassungsreform vom Oktober 1918, zeitgleich mit der Niederlage. Daher auch wurde die westliche Demokratie von Anfang an mit dem Stigma der Staatsordnung der Siegermächte belastet. Und als die Weimarer Republik als parlamentarische Demokratie1930 scheiterte, bekam Hitler seine große Chance. Er konnte sowohl an die in Deutschland populären antidemokratischen Ressentiments appellieren als auch die allgemeinen Ansprüche auf die Massenbeteiligung, die ins Leere stießen, seitdem in Berlin halbautoritäre Präsidialregierungen amtierten. Und das war eine sehr deutsche Konstellation: Eine partielle Demokratisierung durch das allgemeine Wahlrecht, bei gleichzeitiger Vorenthaltung parlamentarischer Regierungsverantwortlichkeit.
  • Kann eine schlecht implantierte Demokratie zu ähnlichen Konvulsionen in
    anderen Teilen Europas führen? In den 90er Jahren verglich man gerne
    Russland mit der Weimarer Republik, der neue Hitler war damals
    Schirinowskij. Auch bei uns suchte man nach gefährlichen Analogien: ob der "solidarische Staat" nicht zu nah an die "Volksgemeinschaft" rückt, ob die nebulösen "Seilschaften" und "Lügeneliten" nicht eine Neuauflage der diabolisierten "Volksfeinde" seien. Wie real ist eine Rückkehr in Europa zu
    antidemokratischen Emotionen? HAW: Sie ist möglich. Demokratien können scheitern. Als in Italien Berlusconi an die Macht kam, sprachen viele meiner italienischen Freunde von der Niederlage der italienischen Demokratie. Und diese Gefahr ist nicht gebannt. Man kann auch andere Staaten erwähnen, auch neue Demokratien in Ostmitteleuropa. Ungarn droht in den Zustand eines latenten Bürgerkrieges zu geraten. Nach 1918 scheiterten alle neuen Demokratien - mit Ausnahme Finnlands und
    der Tschechoslowakei. Man kann leider nicht sagen, dass das III. Reich so
    irreversibel den Faschismus diskreditiert hätte, dass irgendwelche seiner
    populistischen Formen nicht wieder zum Vorschein kommen könnten. Genaue Kopien sind natürlich nicht möglich. Unvorstellbar ist eine Rückkehr zur Uniformisierung und Militarisierung der europäischen Gesellschaften nach dem Muster der dreißiger Jahre. Die populistischen Feinde der Demokratie spielen sich heute vielmehr als ihre angeblichen Verteidiger auf. Es ist unvorstellbar, dass sie so offen gegen die Demokratie antreten wie einst Hitler oder Mussolini.
  • Sie nennen sich dagegen gerne Republikaner. HAW: Zum Beispiel. Doch gerade die EU ist ein Faktor, der antidemokratische Anwandlungen erheblich erschwert. Ein Mitgliedstaat, der sich autoritäre Regierungsformen zulegte, würde viel verlieren. Seine Mitgliedschaft würde suspendiert werden, und er hätte erhebliche materielle Verluste zu tragen.
  • Im Falle Österreichs wirkten die Sanktionen, die Österreicher hatten einen patenten Politiker, Wolfgang Schüssel, der Haider erfolgreich zu
    neutralisieren wusste. HAW: Die Koalition ÖVP-FPÖ alarmierte Frankreich. Einer der französischen Soziologen, Emmanuel Todd, behauptete sogar, dass die deutsche Frage wieder aktuell geworden sei. Er irrte. Doch schon im Falle Berlusconis gab es keine Reaktionen in der EU. Ich bin jedoch sicher, dass eine faktische Änderung in Richtung einer autoritären Regierungsform in irgendeinem Mitgliedstaat starke politische und finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen würde.
  • Ist die EU eine neue Verkörperung der alten Reichsidee?
    HAW: Auf keinen Fall. Die EU ist ein Gebilde sui generis, und nicht ein
    corpus monstro simile, ein Monstrum, wie Pufendorf im 17. Jh. das Alte Reich nannte. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Heilige Römische Reich jahrhundertelang nur ein Schatten seiner einstigen Größe war. Es war an innerer Machtlosigkeit kaum zu überbieten.
  • Was kann dann die EU zum aktiven Eingreifen in die Souveränität der
    Mitgliedstaaten legitimieren? Manche berufen sich dabei auf die christlichen Werte, die anderen auf die Aufklärung. Reicht das?
    HAW: Nein. Die EU braucht eine kritische Aufarbeitung des europäischen
    Erbes, mit all seinen Glanz- und Schattenseiten - eines Erbes, das alle
    nationalen Identitäten geprägt hat. Der Historiker Hermann Heimpel hat
    einmal gesagt, dass es Nationen gibt, sei historisch gesehen das Europäische an Europa. Es war ein Fehler, von einer "postnationalen Konstellation" zu sprechen, als ob Europa schon das nationale Kapitel seiner Vergangenheit abgeschlossen hätte. In diesem Punkt haben die Deutschen aus der alten Bundesrepublik massiv übertrieben. Dass die Deutschen ihren Nationalstaat ruiniert hatten, gab ihnen noch kein Recht, von anderen Nationen zu fordern, auf ihre - manchmal noch älteren - Nationalstaaten zu verzichten; oder ihre nationalstaatliche Identität zugunsten einer postnationalen aufzugeben. Die Nationen sind und bleiben ein konstituierendes Element der EU.
  • Doch die Nationen sind nicht unwandelbar. So wie es keine "Erbfeindschaften" gibt. HAW: In der deutschen Geschichte gibt es Formen eines Nationalbewusstseins, die in das Mittelalter und in die Renaissance zurückreichen. Doch der moderne Nationalismus besteht erst seit den Anfängen des 19. Jhs., seit Arndt, Jahn und Fichte. Auch wenn die Nationalidee bereits im späten 18. Jh. ziemlich präsent war. Die gefährliche Aufladung aber stammt aus der Zeit Napoleons. Den modernen deutschen Nationalismus begann man in der Konfrontation mit Frankreich zu definieren, auch wenn seine Gründungsväter gegenüber der Französischen Revolution keineswegs nur negative Gefühle hegten. Fichte z.B. träumte von einer deutschen Republik. Doch die Sympathien der frühen deutschen Nationalisten für die Ideen des Jahres 1789
    wurden dann rasch durch den Hass auf Napoleon überschattet. So begann die berüchtigte "Erbfeindschaft".
  • Das kennen wir auch. Das ist der Mythos unserer Nationaldemokraten: "Zehn Jahrhunderte deutsch-polnischen Ringens", als ob es nicht auch eine tausendjährige Parallelgeschichte der deutsch-polnischen Osmosen und Symbiosen gegeben hätte...
    HAW: Genau.
  • Zugleich behaupten Sie aber in Ihrer Abschiedsvorlesung, dass es so etwas wie europäische Werte nicht gibt, es gibt nur die westlichen Werte... HAW: Als westliche Staaten - im eigenen Verständnis - nenne ich neben den EU-Mitgliedstaaten auch die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und den Staat Israel. Ich betone das auch, um allen Versuchen entgegenzutreten, eine europäische Identität gegen die USA zu entwickeln. Das geographische Europa war nie eine Wertegemeinschaft. Die Grenze zwischen der West- und Ostkirchest bis heute spürbar. Genauso wie die vormoderne Gewaltenteilung, die
    Trennung der geistlichen und der weltlichen, der fürstlichen und der
    ständischen Gewalt, eine ausgesprochen westliche Erfahrung ist. Ohne sie wäre die moderne Gewaltenteilung - die Trennung zwischen der ausführenden, rechtsprechenden und gesetzgebenden Gewalt, wie sie Montesquieu formulierte
  • nicht möglich gewesen. Das ist eine Grunderfahrung des Okzidents, die die Staaten im Einzugsbereich der orthodoxen Kirche nicht haben. Das heißt nicht, dass diese sich nicht verwestlichen können. Griechenland hat dieses weitgehend getan. Viel früher als etwa Rumänien und Bulgarien. Auch die schwache Resonanz der Aufklärung in Russland, das Fehlen eines Adels im westlichen Sinne, auch eines unabhängigen Bürgertums und schließlich einer Zivilgesellschaft, hängen mit der spezifischen Verschmelzung der orthodoxen Kirche mit dem Zarenreich zusammen. All diese Tatsachen wirken nach im Sinne einer longue durée. Deswegen war es naiv, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 mit einer zügigen Verwestlichung Rußlands zu rechnen.
  • Was ist dann - aus der Perspektive eines Historikers - während des letzten Gipfels in Brüssel passiert? Ist die EU bereits eine Entität?
    HAW: Das deutsche Verfassungsgericht hat 1993 in seiner Bewertung des Maastricht-Vertrages eine Formel erfunden, die man in viele Fremdsprachen schwer übersetzen kann. Die EU ist demnach weder ein Bundesstaat - wie die Bundesrepublik, Österreich oder die Schweiz - noch ein loser Staatenbund, sondern etwas dazwischen, ein Staatenverbund. Sie ist also bei Weitem nicht jene Föderation, die Joschka Fischer im Mai 2000 in seiner berühmten Humboldtrede ansprach. Zur Erinnerung: Er war es, der den Begriff einer europäischen Verfassung mit der revolutionären Idee verband, den Staatenverbund in einen Bundesstaat zu verwandeln. Doch mit Ausnahme Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs wollte das kein anderer EU-Staat. Weder in Frankreich noch in Großbritannien konnte man sich vorstellen, dass Paris oder London demnächst den Rang einer deutschen Landeshauptstadt wie München oder Düsseldorf haben könnte. Die Idee, das Modell des deutschen Bundesstaates auf die EU zu übertragen, war - gelinde gesagt - nicht durchdacht. Und entsprechend war auch das Echo auf Fischers Rede. Doch den Namen "Europäische Verfassung" behielt man bei, was zu übertriebenen Erwartungen und übertriebenen Befürchtungen führte. So
    besonnene Beobachter wie der - keineswegs euroskeptische - Dieter Grimm wiesen darauf hin, dass der Begriff "Verfassung" eine Vortäuschung falscher Tatsachen ist, denn die Mitgliedstaaten sind nach wie vor die Herren der Verträge. Die Zeit für eine "Verfassung" ist noch nicht gekommen. Auf absehbare Zeit geht es um nüchterne institutionelle Reformen, die die EU wieder handlungsfähig machen. Insofern bedauere ich nicht, dass man im Juni in Brüssel auf den Begriff Verfassung verzichtet hat und in Zukunft wohl von einem Grundlagenvertrag sprechen wird. Die EU wird auf absehbare Zeit ein Staatenverbund bleiben. Entscheidend ist, dass die Reformen der Institutionen und der Entscheidungsprozesse, wie sie der Grundlagenvertrag vorsieht, vom Engagement der Zivilgesellschaft flankiert werden, damit eine europäische Öffentlichkeit, ein europäisches Wir-Gefühl, ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit und Solidarität entstehen kann. Erst wenn wir mit der Vertiefung vorankommen, werden wir die Frage möglicher neuer Erweiterungen, im westlichen Balkan etwa diskutieren können.
  • Ist vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte eine gemeinsame
    Außenpolitik der EU überhaupt möglich, oder werden Paris, London und Berlin weiterhin die erste Geige spielen und die anderen dabei nur assistieren? HAW: Ich finde, dass man sich Schritt für Schritt nach vorn bewegen und die Felder des gemeinsamen außenpolitischen Handelns erweitern muss, wobei die Fragen von Krieg und Frieden nicht gegen die begründeten Nationalinteressen der einzelnen Mitgliedstaaten entschieden werden können. In manchen besonders sensiblen Bereichen wird noch lange das Veto-Recht gelten, was jedoch nicht ausschließt, dass Europa in anderen Bereichen als eine Einheit auftritt. Die Bedingung ist allerdings jenes Gefühl der Zusammengehörigkeit, von dem man heute noch nicht allzu viel spürt. Ich kann mir ein "europäisches Wir-Gefühl" vom Polarkreis bis zur Peloponnes, nicht aber von Karelien bis Kurdistan vorstellen. Mit anderen Worten: Ich glaube nicht, dass in absehbarer Zeit die EU mit einer Vollmitgliedschaft der Türkei fertig werden könnte. Umso mehr, als die Türkei sich nur teilweise verwestlicht hat und keine Bereitschaft zeigt, ihre Souveränität mit anderen Staaten zu teilen. Die Aufnahme der Türkei würde das Ende des Projekts einer immer engeren Politischen Union und die Rückentwicklung der EU zur Wirtschaftsgemeinschaft bedeuten. Nachdem im Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit offenem Ausgang begonnen haben, kommt es darauf an, einen Bruch zu vermeiden und eine Lösung anzustreben, die weder die Türkei noch die EU überfordert. Deswegen habe ich im November 2002 die Idee der "privilegierten Partnerschaft" entwickelt. Ich
    hoffe, daß auch Ankara erkennt, daß eine solche "Assoziation plus" den
    türkischen Interessen besser gerecht wird als jene "Mitgliedschaft minus", die die EU dem Land am Bosporus angeboten hat.
01
Feb
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