CfP: Verbotene Frucht. Sexualleben und Kirchen in Ostmitteleuropa in unterschiedlichen Epochen

+++ Deadline verlängert: Noch bis zum 9. Juli bewerben +++

Seit der Entstehung der Christenheit existierte in ihren Lehren eine klare Unterscheidung zwischen erwünschten und ‚unsittlichen‘ sexuellen Verhaltensweisen, wodurch das Liebesleben der Gläubigen geformt werden sollte. Die Kirchen verschiedener Konfessionen nutzten zu diesem Ziel ein breites Spektrum an Mitteln, u.a. Predigten, Beichte, Flüche, Exkommunikation sowie andere Strafen. Mit dem wachsenden Einfluss der Geistlichkeit auf weltliche und staatliche Institutionen drückte die christliche Sexualethik Rechtsnormen, Schulbildung, Wissenschaft und Kunst ihren Stempel auf. Die kirchliche Missionierung traf alle Bereiche des sozialen, privaten, kulturellen sowie politischen Lebens. „So dumm hat uns der Herrgott beim Sexuellen eingerichtet“ – dieses Zitat spiegelt das Schamgefühl wider, das junge Polen während Kursen zur Vorbereitung auf das Familienleben über Sex in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfanden. Menschliche Sexualität war in den kirchlichen Lehren durch Scham und Schuldgefühle gekennzeichnet, und die Kirchen sahen in ihr einen Hort der Sünde.

Auf der anderen Seite unterschied sich der Alltag breiter Bevölkerungsschichten im christlichen Europa zu verschiedenen Epochen deutlich von den durch die Geistlichen propagierten Normen. Verschiedene von den Kirchen abgelehnte Praktiken wie Prostitution, Masturbation, vorehelicher Geschlechtsverkehr oder sexualisierte Gewalt waren allgegenwärtig. Somit misslangen (teilweise) die Versuche der auf religiösen Dogmen basierenden Normierung sexuellen Verhaltens. Trotz der jahrhundertelangen Anwendung kirchlicher, sozialer und staatlicher Zwangsmaßnahmen ließen sich diese Praktiken nicht aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen.

Die von Michel Foucault eingeführten Konzepte der Biopolitik und Gouvernementalität sowie sein Standardwerk „Geschichte der Sexualität“ führten dazu, dass die historische Forschung sich vor allem dem Viktorianischen England mit seiner prüden, puritanischen Sexualmoral widmete. Zugleich nähren neue Forschungen Zweifel daran, dass sich Sexualität durch religiöse sowie durch staatliche bzw. rechtliche Maßnahmen im umfassenden Maße normieren ließe. Im Mittelpunkt der Konferenz stehen die Prozesse der Beeinflussung des
Sexuallebens durch christliche Konfessionen in Ostmitteleuropa. Wir fragen in diesem Zusammenhang, ob man von einer erfolgreichen Verbreitung und Verwurzelung kirchlicher Normen in Bezug auf das sexuelle Verhalten seit dem Mittelalter sprechen kann.

Die Konferenz hat zum Ziel, das Verhältnis zwischen den offiziellen Lehren von kirchlich ‚erwünschten‘ und untersagten sexuellen Verhaltensweisen und alltäglichen Praktiken anhand einer Perspektive ‚von unten‘ zu beleuchten. Uns interessieren verschiedene Fragen, die mit dem Sexual – und Liebesleben des Menschen zusammenhängen: u.a. vorehelicher Geschlechtsverkehr, außereheliche Beziehungen (Ehebruch), Virginität, Schwangerschaftsabbruch, Verhütung, sexuelle Abweichungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen, das „erste Mal“ und das „richtige Alter“ für dieses, die Bewertung von Sex. Wir wollen ebenso das Geflecht zwischen Religion-Norm-Moral sowie Gemeinschaft-Staat-Recht einerseits und Individuum andererseits beleuchten. Im Zusammenhang damit interessieren uns folgende Forschungsfragen:

  • Wie positionierten sich Menschen (lokale Gemeinschaften, soziale Gruppen) zu den von den Kirchen akzeptierten, propagierten und abgelehnten sexuellen Verhaltensweisen in verschiedenen Epochen?
  • Welche sozialen Folgen hatte die Einführung der christlichen Sexualethik auf verschiedene Gemeinschaften und in verschiedenen Epochen? Welche politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen folgten daraus?
  • Welchen Implikationen waren Kultur und Wissen(schaft) ausgesetzt?
  • Woraus speiste sich der individuelle sowie Gruppenwiderstand gegen die kirchlichen Normen, und welche Bereiche betraf er?
  • Existierten parallele das Sexualleben betreffende Rechtsnormen und Wertesysteme und kam es zu Überlappungen?
  • Welche Unterschiede zwischen den Konfessionen traten auf? Welchen Einfluss hatten diese Unterschiede auf das Zusammenleben in multikonfessionellen Gemeinschaften?
  • Welche Unterschiede im Bereich der Normen im Sexualleben existierten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, Regionen, Nationen, Ethnien? Woraus speisten sich diese Unterschiede?
  • Welchen Einfluss hatten die Aktivitäten der Kirche auf das Sexualleben von Frauen, welchen auf dasjenige von Männern? Rezipierten Frauen die Lehren der Kirchen anders als Männer?
  • Wie änderte sich die Durchdringung von gesellschaftlichen Praktiken durch kirchliche Normen im Laufe der Zeit?

Wir laden Forschende, die sich mit den oben genannten Fragestellungen im Ostmitteleuropa im Zeitraum zwischen dem Mittelalter und dem 20. Jahrhunderts beschäftigen, ein, an der geplanten Konferenz teilzunehmen. Ebenso sind Vorträge zu anderen Religionsgemeinschaften erwünscht.

Die Konferenz findet am 24. und 25. November 2022 am Deutschen Historischen Institut Warschau statt. Im Falle von Reisebeschränkungen im Zusammenhang mit der CoViD-Pandemie wird die Konferenz entweder in hybrider oder digitaler Form stattfinden. Die Reisekosten der eingeladenen Referentinnen und Referenten werden erstattet, die Unterkunft wird vom Deutschen Historischen Institut Warschau gestellt.

Vorschläge für eine 20-minütige Präsentation, inklusive eines kurzen Abstracts (ca. 300-400 Wörter), eines Titels und einer Kurzbiografie, sind an Dr. Jaśmina Korczak-Siedlecka (korczak-siedlecka@dhi.waw.pl) und Dr. Michael Zok (zok@dhi.waw.pl), zu richten. Einsendeschluss ist der 9. Juli 2022.

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