Identität, Eigentum und Gerechtigkeit in der Tschechoslowakei des 20. Jahrhunderts

Julia Culp, Foto: Wikimedia Commons

Julia Ginzkey-Culp (1880-1970) war eine in den 1930er und 1940er Jahren international erfolgreiche Sängerin. Am Beispiel der niederländisch-jüdischen Künstlerin, die später die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft annahm, beschrieb Cathleen M. Giustino (Auburn) am 30. November 2021 den Wandel von staatlich festgelegten Identitäten und Eigentumsrechten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Dabei analysierte sie auch die Funktionsweise der Wiedergutmachungsjustiz in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit. 

Gemeinsam mit ihrem ersten Mann habe Julia Ginzkey-Culp in einer Berliner Villa im Ortsteil Zehlendorf am Wannsee gelebt, 1919 erneut geheiratet. Mit ihrem zweiten Mann, dem böhmisch-deutschen Katholiken Wilhelm Ginzkey, sei sie später nach Böhmen gezogen und habe dort die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angenommen. Nach dem Tod ihres Ehemanns habe sie das von ihm geerbte Haus bezogen, sich jedoch 1939 dazu gezwungen gesehen, vor den Nationalsozialisten in die Niederlande zu fliehen. Hier beginne Ginzkey-Culps Kampf um ihr Eigentum, so die Historikerin.

Julias Besitztümer seien zwei Jahre nach ihrer Flucht durch die Gestapo beschlagnahmt worden, berichtet Giustino. Doch Alfred Mallmann, einem Neffen Wilhelm Ginzkeys, sei es gelungen, sie zurückzukaufen. Er lagerte die konfiszierten Dinge unter anderem in seiner Villa und seiner Fabrik, sodass sich Julias Kunst und Antiquitäten mit dem Besitz von Mallmanns Familie vermischten. Nach Kriegsende seien Ginzkeys Neffen, die mit den Nationalsozialisten kooperiert hatten, für „unzuverlässig“ erklärt und enteignet worden. Unter ihren konfiszierten Gegenständen hätten sich auch die von Julia Ginzkey-Culp befunden, erklärt die Vortragende — eine erneute Enteignung ihrer Besitztümer. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs habe Julia sich schließlich um die Rückgabe ihres Eigentums bemüht. Die Rückgabe ihrer Immobilien im Jahr 1946 habe sie hoffnungsvoll gestimmt, auch ihre Kunst und Antiquitäten wiederzuerlangen. Doch der Prozess zog sich. Da Handelsverträge mit den Niederlanden für die Tschechoslowakei von großer Bedeutung waren, seien die Bemühungen hinsichtlich der Rückgabe — auch durch die niederländische Botschaft — intensiviert worden. 

Einige Gegenstände seien für „unauffindbar“ erklärt worden, da sie sich im Besitz wichtiger Persönlichkeiten befanden, doch im Sommer 1950, so Giustino, hätten Julia, ihre Schwester und ihr Neffe Visa erhalten, um ihre Kunstgegenstände in der Tschechoslowakei zu identifizieren. Im November desselben Jahres folgte die Unterzeichnung des Rückgabevertrags und nur drei Monate später seien schließlich ungefähr 1500 Kunstgegenstände und Antiquitäten in sechs Zugwaggons nach Amsterdam gebracht und zurückgegeben worden.

Laut der Vortragenden beleuchten Geschichten wie die der Julia Ginzkey-Culp breitgefächerte historische Themenbereiche: Ihr Beispiel verdeutliche, dass staatlich vorgeschriebene Identität nicht in jedem Fall mit persönlicher Identität gleichzusetzen sei. Julia lebte in verschiedenen Staaten und besaß unterschiedliche Staatsbürgerschaften; ihr wurden Bürgerechte (und somit auch Eigentumsrechte an ihrem Besitz) genommen und gegeben. An der Kategorisierung von Menschen, die häufig nicht ihren tatsächlichen Identitäten entspreche, zeige sich die dunkle Seite moderner Staaten, so Giustino. Grenzregionen wie das Sudetenland seien Gebiete, in denen — wie in diesem Fall — transnationaler und transsystemischer Austausch stattfinde. Auch leiste Julias Beispiel einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Beschlagnahmung und Rückgabe von Gütern, insbesondere durch die Tschechoslowakei an Juden. Laut Giustino zeige dies die geringe Bedeutung, die der Restitution von entrechteten Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg von der Tschechoslowakei beigemessen wurde.

Die angeregte und facettenreiche Diskussion im Anschluss bestätigte die Bedeutung und Vielschichtigkeit des Themas. Zunächst meldete sich Alfred Mallmann über Zoom zu Wort. Mallmann, ein Enkel des gleichnamigen Neffen von Wilhelm Ginzkey, gab interessante Einblicke in seine Familiengeschichte, bevor die Rückgabe beschlagnahmten Eigentums durch die Tschechoslowakei diskutiert wurde. Es stellte sich die Frage, welche ideologischen Motivationen eine Rolle bei der Restitution gespielt haben könnten. Giustino betonte, der Staatsführung sei es eher darum gegangen, günstige Verträge mit anderen Ländern (wie den Niederlanden) zu schließen, als darum, Holocaust-Überlebenden ihr Eigentum zurückzugeben. Ob es Seitens der Regierung aus antikapitalistischen Gründen Einwände gegen die Rückgabe der Güter an die wohlhabende Julia Ginzkey-Culp gegeben haben könnte, blieb offen. 

Der englischsprachige Vortrag „Identity, Property and Justice in Post-War Czechoslovakia: The Restitution Case of Julia Ginzkey-Culp“ wurde von der gemeinsamen Prager Außenstelle des DHI Warschau und des Collegium Carolinum in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Prag organisiert und fand in einem hybriden Format statt.

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