18. Joachim-Lelewel-Gespräch: Geschichte mit Menschen. Alltagsgeschichte und die historische Forschung in Deutschland und Ostmitteleuropa

Die Entwicklung der Alltagsgeschichte als Disziplin in den unterschiedlichen nationalen Kontexten stand am 20. Februar 2019 im Zentrum des 18. Lelewel-Gesprächs in der Martynas-Mažvydas-Nationalbibliothek Litauens in Vilnius. Das Podium war Teil der vom DHI Warschau und seiner Außenstelle organisierten Tagung „Alltagsgeschichtliche Zugänge und Perspektiven auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts“ und zugleich eine Premiere: Erstmals wurde dieses Veranstaltungsformat des DHI außerhalb Polens erprobt. Unter der Moderation von Ruth Leiserowitz (DHI Warschau) diskutierten Tatjana Tönsmeyer (Bergische Universität Wuppertal), Błażej Brzostek (Universität Warschau), Tomas Vaiseta (Universität Vilnius) und Vita Zelče (Universität Lettlands) die Wahrnehmung alltagsgeschichtlicher Konzepte in den jeweiligen Ländern und förderten dabei teils sehr große Unterschiede zu Tage.

Błażej Brzostek hob die enorme Popularität alltagsgeschichtlicher Themensetzungen in Polen hervor und erblickte darin nicht nur Positives. So werde die Alltagsgeschichte in Polen von der aktuellen Regierung beispielsweise häufig für politische Zwecke instrumentalisiert. Der Zusammenhang zwischen Alltagsgeschichte und Politik habe deshalb eine lebhafte Debatte zwischen den Historikern ausgelöst. Tomas Vaiseta, der als Autor eines Buchs über das Alltagsleben der Patienten psychiatrischer Anstalten in Sowjetlitauen hervorgetreten ist, sah in alltagsgeschichtlichen Zugängen hingegen ein Mittel, Geschichtsschreibung und Tagespolitik zu trennen. Er begreife Alltagsgeschichte als einen außerpolitischen Zugang zur Geschichtsschreibung. Diesem Verständnis widersprach Tatjana Tönsmeyer und unterstrich, dass Alltagsgeschichte immer auch eine politische Geschichte sei. Sie verwies auf den meist vorhandenen politischen Kontext alltagsgeschichtlichen Erzählens und die damit einhergehende Unmöglichkeit Alltägliches und Politisches voneinander zu trennen. Vita Zelče skizzierte indes Bedeutung und Potential der Alltagsgeschichte bei der Dekonstruktion dominierender Narrative, die insbesondere Frauen und anderen marginalisierten Gruppen einen Weg hinein in den historiographischen Themenkanon ebnen könnten.

Die Diskussion zeigte, wie stark alltagsgeschichtliche Zugänge von unterschiedlichen nationalen und methodischen Kontexten und Forschungstraditionen geprägt sind. Vor diesem Hintergrund kann sich ein intensiver grenzüberschreitender wissenschaftlicher Austausch über alltagsgeschichtliche Fragestellungen für die Geschichtsschreibung nur als fruchtbar erweisen.

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