22. Lelewel-Gespräch: Neue Perspektiven in der Holocaust-Forschung

Fotos: Monika Tarajko

Nur wenige Bücher haben das Feld der Holocaust-Forschung in einer Weise beeinflusst wie Ordinary Men: Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland von Christopher R. Browning. Das Buch wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt und ist zu einem festen Bestandteil der Holocaust-Geschichtsschreibung geworden. Kaum ein anderes Buch über den Holocaust wird in Lehrveranstaltungen zum Thema Holocaust an den Universitäten rund um den Globus häufiger zitiert und diskutiert. Im Jahr 2022 jährt sich die Erstveröffentlichung von Ordinary Men zum dreißigsten Mal. Zu diesem Anlass hat das Deutsche Historische Institut Warschau eine Podiumsdiskussion organisiert.

Das 22. Joachim-Lelewel-Gespräch mit demTitel „30 Years After 'Ordinary Men': Groundbreaking and New Perspectives in Holocaust Research“ fand am 10. Juni 2022 im Rahmen der internationalen wissenschaftlichen Konferenz „Aktion Reinhardt: Historical Contexts, Research Perspectives, and Memory“ in Lublin statt.

Für seine Publikation wählte Christopher R. Browning einen mikrohistorischen Ansatz und warf damit ein neues Licht auf den Verlauf des Holocausts. Auf den Spuren der Aktivitäten des 101. Reserve-Polizeibataillons im deutsch besetzten Ostpolen stellte er nicht nur die Frage danach, was geschah, sondern vor allem danach, wie es geschah. Die Mitglieder der Reservepolizeieinheit – der kollektive Protagonist des Buches – waren keine fanatischen Anhänger des Nationalsozialismus oder geborene Mörder. Es waren ganz normale Menschen, die im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ vierzigtausend Juden erschossen und sich an den brutalen Deportationen von noch mehr Opfern in die Todeslager beteiligten. Browning zeichnet in seinem Buch die Entscheidungen nach, die die Täter während ihrer Beteiligung am Völkermord trafen. Bevor das Wort „interdisziplinär“ in Förderanträgen üblich wurde, kombinierte Browning bereits eine detaillierte, quellengestützte historische Analyse mit einer Interpretation der beschriebenen Ereignisse, die sich auf die Sozialwissenschaften, insbesondere die Sozialpsychologie, stützte. Mit Ordinary Men wandte sich Browning gegen die Behauptung, die Ideologie spiele die Hauptrolle bei der Verwandlung von normalen Ehemännern und Vätern in Mörder. Er schlägt eine multifaktorielle Erklärung vor und argumentiert, dass sich Gruppendruck und Konformität als entscheidend für das Verständnis der internen Dynamik der Truppen erweisen könnten, welche Massenhinrichtungen durchführten.

Mit der Veröffentlichung von Ordinary Men wurde die Täterforschung geboren – ein Ansatz, der auch heute noch zu den führenden Perspektiven in der Holocaustforschung gehört. Der Autor vertritt die Auffassung, dass der Holocaust kein Ereignis außerhalb der Geschichte war und dass soziale Phänomene und Prozesse eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung ideologisch geprägter krimineller Pläne spielen.

Im Mittelpunkt des 22. Lelewel-Gesprächs standen die Veränderungen, die in den letzten drei Jahrzehnten in der Holocaustforschung stattgefunden haben. Christopher Browning, der online zugeschaltet war, stellte seine Überlegungen zur Rezeption des Buches vor. Er verwies auch auf historische Studien, die nach der Veröffentlichung des Buches über andere deutsche Polizeibataillone und ihre Rolle bei der Judenvernichtung verfasst wurden.
Am zweiten Teil der Debatte nahmen Michał Bilewicz (Universität Warschau), Mark Roseman (Indiana University Bloomington), Roma Sendyka (Jagiellonen-Universität Krakau) und Łukasz Krzyżanowski (DHI Warschau) teil, welcher die Diskussion moderierte. Alle Diskutanten stellten auf der Grundlage ihrer Forschungen Überlegungen zur Rolle der „gewöhnlichen Menschen“ in der Erforschung des Holocaust an. Weitere Diskussionsthemen waren die Problematik der Erweiterung des Täterkreises, die Hinwendung der Geschichtsschreibung zu den Zeugnissen der Überlebenden, die Berücksichtigung der visuellen Kultur in den Holocaust-Studien (die auch in der neuesten Ausgabe von Brownings Buch zum Ausdruck kommt) und die Problematik der Verwendung der Ergebnisse klassischer psychologischer Experimente zur Erklärung des Holocausts.

Ausschnitte der Diskussion sind auf dem Youtube-Kanal des DHI Warschau zu sehen.

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