Die Hinterbliebenen als Handelnde

Alle ostmitteleuropäischen Gesellschaften erlebten während und in Folge des Zweiten Weltkriegs fundamentale soziale Umwälzungen. Durch die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten sowie die gewaltsamen Umsiedlungen anderer Gruppen entstanden ganze Regionen, in denen sich Menschen am Kriegsende ohne ihre einstigen Nachbarn wiederfanden. Die Konferenz „No Neighbors‘ Land – Postwar Europe in a New Comparative Perspective“ nahm das Leben der Hinterbliebenen nach der Ermordung und Vertreibung ihrer Nachbarn in vergleichender Perspektive in den Blick. Das primäre Interesse der Konferenz galt somit weder den Tätern noch den Opfern von Vernichtung und Vertreibung, sondern denjenigen, in deren Gegenwart sich diese Verbrechen vollzogen. Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa analysierten teils mit mikrohistorischen, teils mit synthetisierenden Ansätzen die sozialen Praktiken des Gedenkens und Vergessens der einstigen Nachbarn. Die in Warschau betriebenen Untersuchungen über Polen und die Ukraine wurden durch Fallstudien aus Slowenien, Deutschland, Belgien, Italien, Litauen, Belarus, Russland, Ungarn, Finnland und Tschechien kontextualisiert.

Zahlreiche Beispiele legten die Praktiken offen, die es den Überlebenden und Hinterbliebenen von Krieg und Völkermord erlaubten, die Erinnerung an die einstigen Nachbarn zu verdrängen und ein aktives Gedenken an sie zu meiden. Dieses Motiv zog sich wie ein roter Faden durch die Konferenz. So lernte das Publikum dank Anja Moric (Universität Ljubljana) über die heute im Süden Sloweniens vergessene einstige deutschsprachige Minderheit der Gottscheer. Agata Zysiak (Universität Warschau) berichtete über die Lodzer Juden, deren Schicksal in den lokalen öffentlichen Diskursen der Nachkriegszeit nicht repräsentiert war. Marta Havryshko (Ukrainische Akademie der Wissenschaften) referierte über die sexuellen Verbrechen, die ukrainische Kollaborateure an jüdischen Frauen verübten, und die nach dem Krieg nur punktuell aufgeklärt wurden. Irina Rebrova (Technische Universität Berlin) erläuterte am Beispiel von Rostow am Don die Dynamiken des Erinnerns und Vergessens des Holocaust in Russland. Einen interessanten Kontrast zum Paradigma des Vergessens bot der Vortrag von Barbara Törnquist-Plewa (Lund University), die demonstrierte, wie deutlich sich die Erinnerungslandschaften in Lemberg und Breslau durch Massentourismus und die Erinnerungspolitik der Europäischen Union verändert hätten. Die Kulturhistorikerin beobachte in diesen Städten die Entstehung eines kosmopolitischen Erinnerungsdiskurses, der die Erfahrungen der einstigen Nachbarn integriert.

Die Konferenz wurde gemeinsam vom Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften und dem DHI Warschau organisiert und stand unter der Schirmherrschaft des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN.

01
Feb
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