Eine Emotionsgeschichte des 19. Jahrhunderts

Vergangene und aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge über die Gefühlsregungen der Menschen zu deuten ist eine für den herkömmlichen Historiker eher befremdliche Vorgehensweise. Im ersten Dienstagsvortrag des Jahres mit dem Thema „‘Das Zeitalter der Gefühle‘? – Eine Emotionsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ tat Birgit Aschmann von der HU Berlin genau dieses. Ihre Ausführungen konnten gleichwohl als überzeugendes Plädoyer verstanden werden, das Erforschen bestimmter zeitgenössischer Emotionalitäten zur Grundlage besseren Verstehens historischer Prozesse zu machen. Obwohl eine klare Definition der Emotion schwer zu geben sei, so Aschmann, sei es unbestritten, dass Emotionen in Verbindung mit Denkvorgängen das menschliche Handeln beeinflussen – sei es im individuellen oder im gesamtgesellschaftlichen Rahmen.

Anhand des Konzepts des emotional regime des Kulturanthropologen William M. Reddy, das die gesellschaftlich vorgegebene Emotionalität zu einer bestimmten Zeit bezeichnen soll, machte Aschmann ihren Punkt deutlich, wie sehr bestimmte Zeitalter durch Emotionen gesteuert werden. Die im Allgemeinen auch als „Zeitalter der Vernunft“ betitelte Aufklärung sei demnach ohne die maßgebliche Emotion der Empfindsamkeit nicht zu verstehen. In unzähligen wissenschaftlichen Veröffentlichungen habe man diese Empfindsamkeit gewissermaßen „wegschreiben wollen“. Ebenso habe es den sich vom Emotionskorsett der Aristokratie befreienden und sich fortan als emotional authentisch fühlenden Bürger in einer Art „Sog des Sentimentalismus“ regelrecht in die Französische Revolution hineingezogen.

Mit dieser habe es jedoch, so die Referentin weiter, einen radikalen Bruch in der Emotionsgeschichte der europäischen Gesellschaft gegeben. Sentimentale Gefühle wären künftig nur noch Frauen, Randgruppen und Künstlern vorbehalten gewesen, der europäische Mann hingegen habe sich von nun an ohne eine sichtbare Regung um sein Ehrgefühl duelliert.

Ehre und das damit einhergehende Ehrgefühl wirke im 19. Jahrhundert als Leitwert, schaffe eine Art innerer Kohäsion zwischen Gesellschaft und Individuum, erhöhe aber auch das Kriegsrisiko zwischen den Nationen. Auch im Hinblick auf eine drohende Niederlage oder den Tod sei man bereit gewesen für die Ehre hohe Opfer zu erbringen. Im individuellen oder kollektiven Duell, dem Krieg, glaubte man diese wiederherstellen zu können.

Unter diesem Blickwinkel seien auch die französisch-preußischen Auseinandersetzungen des Jahrhunderts zu deuten. So habe Friedrich Wilhelm III. Preußen 1806 entgegen jeglicher rationaler Vorbehalte zum Krieg gegen Frankreich geführt und Bismarck zum auslaufenden Jahrhundert durch sein manipulatives Spiel um die Emser Depesche „zwei beleidigte Nationen“ zum Schlagabtausch getrieben.

Statt durch das Gefühl der Ehre, so Aschmann weiter, sei heute die Gesellschaft in erster Linie durch die Emotion Angst, durchaus auch als existentielle Angst im Kierkegaard’schen Sinne und deren kanalisierter Ableger Furcht und Hass bestimmt. Diese verhängnisvolle Kombination tauche immer wieder in Zeiten der Verunsicherung auf, die Aschmann zu Beginn und zum Ende des 19. Jahrhunderts und eben auch heute sehe. In diesem Sinne ließen dann auch besonders aufgeladene emotionale Zeiten gefühlsbestimmte Grenzüberschreitungen von öffentlichen Figuren erklärbar machen. Ein eindrucksvolles Beispiel dieses Sachverhalts war zum Ende ihres Vortrags der neben den Politiker Thilo Sarrazin gesetzte Historiker Heinrich von Treitschke.

01
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