Kongress Polenforschung – Gerechtigkeit

Wie wird Gerechtigkeit definiert? Auf welche Weise wird eine gerechte Ordnung interpretiert, implementiert oder inszeniert? Unter dem Motto „Gerechtigkeit“ fand der diesjährige Kongress Polenforschung statt, der sich in diesem Jahr zum fünften Mal jährte. Die gemeinsam vom Deutschen Poleninstitut Darmstadt, dem Alexander-Brückner-Zentrum für Polenstudien, der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg und der Friedrich-Schiller-Universität Universität Jena organisierte Veranstaltung brachte vom 5. bis 8. März 2020 Forschende verschiedener Fachdisziplinen sowie zahlreiche wissenschaftlich Interessierte in Halle (Saale) zusammen und bot somit einmal mehr die Gelegenheit, sich über Forschungsbereiche und Landesgrenzen hinweg auszutauschen. Am Beispiel Polens wurden verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit und Möglichkeiten ihrer Realisierung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gesetze, Praktiken sowie Norm- und Wertvorstellungen diskutiert.

Auch das DHI Warschau war in diesem Jahr wieder mit mehreren Panels vertreten. Unter dem von George Orwell inspirierten Titel „Alle Menschen sind gleich, aber manche sind gleicher“ stellte die von Annika Wienert und Sabine Stach konzipierte Sequenz das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit in den Fokus. Aus ganz unterschiedlichen disziplinären Perspektiven widmeten sich die einzelnen Beiträge den Paradoxien der Egalität in der Volksrepublik Polen: Als Geschichte politischer Propaganda analysierte Christina Heiduck (Jena) das Spannungsfeld zwischen Volksnähe und Außergewöhnlichkeit anhand des polnischen Kosmonauten Mirosław Hermaszewski. Einen Einblick in die Geruchsgeschichte gab Stephanie Weismann aus Wien — wie Heiduck ehemalige Stipendiatin des DHI Warschau — mit ihren Überlegungen zu egalitären Geruchslandschaften in der PRL. Sabine Stach wiederum beschäftigte sich mit dem in der Populärkultur omnipräsenten Narrativ einer „grauen Zeit“. Das von Ruth Leiserowitz geleitete Panel wurde von der Kunsthistorikerin Małgorzata Popiołek-Roßkamp (Berlin) kommentiert und vom Publikum angeregt diskutiert.

Gemeinsam mit einer weiteren ehemaligen DHIW-Stipendiatin, Ivanna Cherchovych aus Lemberg, und Anna Muller – derzeit mit einem Fulbright Stipendium in Danzig – diskutierte Felix Ackermann die Erfahrungen von Frauen in Gefängnissen. Die Diskussion im Panel „Imprisoned Femininity: Gender Roles and Incarceration in Modern Polish and Ukrainian History.“ begann Claudia Kraft von der Universität Wien mit einem Kommentar, in dem sie darauf verwies, dass diese Erfahrungen auf den ersten Blick am Rande der Ränder gemacht wurden. Der zweite Blick ermögliche aber eine andere Betrachtungsweise im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Insassen in Gefängnissen: Form und Prozess dieser Veränderung könnten demnach als Seismograph für grundlegende Veränderungen gesehen werden.

Die ehemalige Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des DHI Warschau Bianka Pietrow-Ennker (Konstanz) organisierte das Panel „‚Gerechtigkeit‘ in der internationalen Politik — Polen und seine Nachbarstaaten in der Transformationszeit seit 1989. Zum Zusammenhang von Staatlichkeit, Konstruktionen nationaler Identität und außenpolitischer Positionierung”. Damit wurde nicht nur auf ein aktuelles Publikationsprojekt Bezug genommen, sondern gleichzeitig auch an eine DHIW-Tagung im März 2018 angeknüpft. Um „Polens Streben nach einem ‚gerechten‘ Platz im internationalen System“ ging es im Vortrag des ehemaligen DHIW-Direktors Klaus Ziemer, bevor der derzeitige Institutsleiter Miloš Řezník das Thema „Außenpolitik, Identitätsagenda und ‚historische Gerechtigkeiten‘: Eine tschechoslowakische/tschechische Konfiguration“ beleuchtete. Weitere Vorträge lieferten Malte Rolf (Oldenburg) über Litauen und Wilfried Jilge (Berlin) über die Ukraine. Eine lebhafte Diskussion rundete diesen sehr gut besuchten Block ab.

Im Rahmen des von Sebastian Paul und Matthäus Wehowski (Dresden) organisierten Panels „Plünderungen und physische Gewalt als ‚Volksgerechtigkeit‘? - Gewalt als Ressource zur Legitimation und Repräsentation von Nachkriegsordnungen nach dem Ersten Weltkrieg“ referierte Maciej Górny. Die Vortragenden versuchten, unsichere oder manipulierte Informationen über die Gewaltausbrüche während des Transformationsprozesses Mittel- und Osteuropas nach 1918 zu ordnen. Als das Thema, dem dabei am meisten Aufmerksamkeit zuteil wurde, erwies sich paradoxerweise die überraschende Abwesenheit von Gewalt in Fällen, in denen sie ursprünglich erwartet worden war. Auch Propagandafunktionen der Gewaltdarstellung, insbesondere der sexuellen Gewalt, wurden diskutiert.

Im Panel „Cultural (Mis)representations of the Rescue of Jews During the Holocaust in the Polish Public Discourse“ sprach Agnieszka Wierzcholska (Berlin) darüber, wie das Thema der Rettung der Juden während des Holocausts in Polen behandelt wird, bzw. vor dem Hintergrund historischer Erkenntnisse behandelt werden sollte. Der Literaturwissenschaftler Tomasz Żukowski (Warschau) konzeptualisierte den polnischen Diskurs über die Judenrettung als eine Herrschaftspraxis. Die Literatur- und Religionswissenschaftlerin Karina Jarzyńska (Krakau) analysierte die religiöse Rahmung des Themas im heutigen Polen. Abschließend referierte Zofia Wóycicka über die „wandernden Motive“ in europäischen Gerechten-Museen. Das interdisziplinäre Panel wurde polemisch von Raphael Utz (Jena) kommentiert. Die Vielzahl an Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum offenbarte ein überaus großes Interesse an der Thematik.

Darüber hinaus war das DHI Warschau Mitorganisator des Panels „Democracy, Etatism and Justice in Interwar Poland” mit Vorträgen von Natalia Stegmann (Regensburg), Iwona Dadej (Warschau / Berlin), Claudia Kraft (Wien) und Maciej Górny. Angeregt wurde der Begriff der politischen Transformation als eine Kategorie diskutiert, die nicht nur bei der Analyse der Veränderungen in Mittel- und Osteuropa nach 1989, sondern auch während der Wende von 1918 von Nutzen gewesen sein könnte. Die Rolle von Emotionen in der wirtschaftlichen und politischen Geschichte und die Frage danach, ob geweckte und enttäuschte soziale Hoffnungen als ein bedeutenderer Faktor gelten können als ‚harte‘ Wirtschaftsdaten, waren Thema in der abschließenden Diskussion.

04
Apr
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