Labore der Moderne: Russische, Preußische und Habsburgische Gefängnisse im geteilten Polen und Litauen

© Jan Zappner

Zum Thema „Russische, Preußische und Österreichische Gefängnisse im geteilten Polen und Litauen im 19. Jahrhundert“ referierte Felix Ackermann am 5. März 2020 in Prag. Im gemeinsam von der DHIW-Außenstelle, dem Collegium Carolinum München und der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität organisierten Vortrag stellte der wissenschaftliche Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts Warschau einige Erkenntnisse seines aktuellen Forschungsprojektes vor.

In seinem Vortrag betonte Ackermann die ethnische, politische, soziale und religiöse Heterogenität der polnischen und litauischen Länder im 19. Jahrhundert. Diese Heterogenität kam auch in der Anordnung der untersuchten Gefängnisse zum Ausdruck. Es handelte sich bei der Reform des Strafvollzugs um ein ambivalentes Modernisierungsprojekt. Einerseits sollten Gefängnisse aus Gefangenen imperiale Untertanen hervorbringen. Andererseits entstanden mit der Kodifizierung des Strafrechts sowie der Einführung von Strafvollzugsordnungen auch Bürgerrechte, die Gefangenen ermöglichten auf staatliche Willkür zu reagieren. Ein Ausdruck des modernistischen Anspruchs des Strafvollzugs ist die Gefängnisarchitektur, die auch religiöse Bedürfnisse von Gefangengen berücksichtige. Die Beamten in der Gefängnisverwaltung waren zugleich gezwungen, sich stets mit dem Problem auseinander zu setzen, wie der disziplinierende und zugleich humanisierende Charakter des Gefängnisses ins Gleichgewicht zu bringen sei.

Ackermanns methodischer Ausgangspunkt ist, die historische Untersuchung von Gefängnissen konsequent als Teil von Stadtgeschichte zu betrachten. Trotz des verbreiteten Bildes von Gefängnissen als Ort des Ausschlusses funktionierten die Gefängnisse häufig im Gegenteil als öffentliche Räume. Im Gefängnis nahmen sowohl kriminelle als auch politische Gefangene neue Kontakte auf und traten neuen Netzwerken bei. Diese Netzwerke schlossen auch Aufseher, Verwalter, Stadtbehörden und Ministerialbeamte ein. Das Gefängnis diente als Grundlage für das geplante Verbrechen. Anstatt als gesellschaftliches Heilmittel zu funktionieren, wurde das Gefängnis zu einem Inkubator kritischer gesellschaftlicher Prozesse. Daher müsse jede Geschichte des Gefängnisses die binäre Vorstellung vom „guten korrigierenden Staat“ und „bösen bestraften Häftlingen“ überwinden.

Am Beispiel des Aufstandes im Lemberger Gefängnis Brygidki im September 1902 zeigte Felix Ackermann die Fähigkeit von Gefangengen, in ihrer beschränkten Lage selbst als historisches Subjekt in Erscheinung zu treten. Aus dem historischen Gebäude des Gefängnisses verbreitete sich in den benachbarten Straßen der Lärm von zweihundert Gefangengen. Mit Werkzeugen und Einrichtungsgegenständen bewaffnet bedrohten sie ihre Wächter. Infolge dessen versammelten sich rund um das Gefängnis Arbeiter und Arbeiterinnen, teils aus Neugierde, teils um Gefangene zu unterstützen. Das Gefängnis war schon zum Beginn des 20. Jahrhunderts so zentral situiert, dass es von der Staatanwaltschaft als kritische Bedrohung gedeutet wurde. Schließlich wurde der Aufstand durch eine Armeeeinheit mit Gewalt pazifiziert, um wieder Ruhe herzustellen, die als Synonym staatlicher Kontrolle galt. Die spätere Untersuchung der Aufstandsgründe deckte eine leise Allianz zwischen Gefangengen und einem Teil der Aufseher auf, die aus den gleichen Unterschichten kamen.

Zum Schluss wies Felix Ackermann auf die Bedeutung des Gefängnisses in der Herausbildung moderner Staatlichkeit hin. Im Gefängnis gingen die imperialen Behörden auf regionale, sprachliche und kulturelle Unterschiede der Bevölkerung im geteilten Polen und Litauen ein. Der Strafvollzug gehörte zu den Institutionen, mit denen die Machtinhaber versuchten, Untertanen aus den neuen Peripherien in die Praxis imperialer Herrschaft einzubinden. Der genauere Einblick in die Alltagspraxis der Gefängnisse zeigt, wie diese imperiale Politik an die Grenzen des Möglichen stieß. Begrenzte materielle Ressourcen und eine stetig wachsende Zahl von Insassen führten zu nicht intendierten Folgen für den Strafvollzug. Sie zwangen die imperialen Beamten, ihre Vorstellungen grundsätzlich zu revidieren.

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