London ist offen – nicht nur für Wissenschaftler

Nachdem die britische Bevölkerung im Referendum am 23. Juni 2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gestimmt hatte, eröffnete der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan die Kampagne #LondonIsOpen mit den Worten: „Ich möchte, dass kein Londoner Zweifel hat: London ist offen und egal, woher du kommst, du wirst immer hierhergehören.

Dass London offen ist, erfuhren auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des wissenschaftlichen Workshops „(De)Constructing Europe“, der vom 7. bis 9. Juli 2022 in den Räumen des DHI London stattfand. In einer Expertengruppe diskutierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Teilprojekte des gleichnamigen transnationalen Verbundprojekts. Beteiligt waren die Deutschen Historischen Institute in Warschau, Rom und London sowie das Institut für Sozialforschung in Hamburg.

William King erforscht die Aktivitäten britischer Labour-Abgeordneter im Europäischen Parlament zwischen 1979 und 1989, während David Lawton euroskeptische Netzwerke unter den Londoner Eliten mit besonderem Augenmerk auf Anwälte analysiert sowie Fragen der Finanzierung von Medienkampagnen und Öffentlichkeitsarbeit.

Die Haltung der britischen Eliten gegenüber der europäischen Integration ist auch Gegenstand einer vergleichenden Analyse von Katharina Troll, die an einer Dissertation über die westdeutsche Textilindustrie und den ersten Antrag Großbritanniens auf EWG-Mitgliedschaft zwischen 1961 und 1963 arbeitet. Alexander Hobe untersucht hingegen die euroskeptische Stimmung unter westdeutschen Soldaten in den 1950er Jahren. Der Forschung zur europäischen Integration in den Mittelmeerländern widmen sich drei Wissenschaftler: Antonio Carbone und Andrea Martinez analysieren den italienischen Euroskeptizismus, während Philipp Müller sich auf das Problem der Dekolonisierung und Europäisierung des portugiesischen Reiches konzentriert.

Auch an polnischen Themen mangelte es beim Workshop nicht. Obgleich das euroskeptische Narrativ die Polen nicht zu überzeugen scheint, ist der Euroskeptizismus dennoch ein Phänomen, das Forschungen erfordert. Die Vertreterinnen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Olga Gontarska und Beata Jurkowicz, berichteten ebenfalls über ihren Forschungsstand. Gontarska stellte die wichtigsten Themen der öffentlichen Debatte in Polen über die Einrichtung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel vor, während Jurkowicz unterschiedliche Ansätze der kommunistischen Opposition in der Volksrepublik Polen in Bezug auf die europäische Integration erläuterte.

Den ersten Workshoptag beendete eine Expertendiskussion zum Thema „Going against the tide? Sceptical views and alternative visions of European integration“, unter der Teilnahme von Eirini Karamouzi (Universität Shefield), Piers Ludlow (London School of Economics), Andrea Mammone (Universität La Sapienza in Rom), moderiert von James Ellison (Queen Mary University of London).

Auf dem Podium wies Eirini Karamouzi darauf hin, dass alle Forschungen zum Euroskeptizismus mit Definitionsproblemen zu kämpfen hätten, dass aber Historiker sich konstruktiv mit einem wissenschaftlichen Bereich auseinandersetzen müssten, der ursprünglich der Politikwissenschaft vorbehalten gewesen sei. In Analogie dazu müssten sie für die Bedeutung der Geschichte der europäischen Integration argumentieren und mit mangelnder Unterstützung und mangelndem Interesse politischer Entscheidungsträger kämpfen. Andrea Mammone sah dies ähnlich und forderte Historikerinnen und Historiker dazu auf, sich in diese unruhigen Gewässer zu begeben. Dies sei besonders wichtig, da sich Ideen über die Zeit hinweg wandelten und Grenzen überschritten würden. Als Beispiel nannte er die koordinierten Bemühungen der Euroskeptiker zwischen Geert Wilders, Marine Le Pen und Matteo Salvini und wies auf zeitgenössische Bezüge in der geschichtswissenschaftlichen Arbeit hin. Außerdem hob er hervor, dass es nicht nur eine einzige alternative Vision von Europa gebe. Sogenannte Populisten oder Angehörige extremer Parteien hätten ebenfalls unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Europa zu sein habe.

Piers Ludlow identifizierte drei potenzielle Kategorien von Euroskeptizismus: Anti-Europäer (gegen Europa), Divergenz über die Art von Europa (nicht für eine bestimmte Art von Integration) und Infragestellung bestimmter Politiken. Der Sachverständige erinnerte daran, dass es in der Geschichte der Integration immer wieder kritische Ansichten gebe, die aber nicht von Dauer seien. Das Wesen der Kritik habe im Laufe der Geschichte zu- und abgenommen. Dieser Prozess sei auch mit der Intensivierung der europäischen Integration in den 1980er Jahren zusammengefallen, als die Integration begonnen habe, sich langsam immer stärker auf die Bürger der Mitgliedstaaten auszuwirken.

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