Masaryk erzählt sein Leben und Čapek schreibt es auf: Über Paradoxa eines kollaborativen Buchprojekts

Gespräche mit T. G. Masaryk Quelle: Nationalbibliothek der Tschechischen Republik

In den 1920er 1930er Jahren berichtete Tomáš Garrigue Masaryk ausführlich über sein Leben. Niedergeschrieben wurde die Geschichte des ersten tschechoslowakischen Präsidenten vom berühmten tschechischen Schriftsteller Karel Čapek. Diesem kollaborativen Buchprojekt nimmt sich JProf. Anna Artwińska (Leipzig) in ihrer aktuellen Forschung zur tschechoslowakischen Literaturgeschichte in der Zwischenkriegszeit an. Am 15. April 2021 referierte die Juniorprofessorin für westslawische Literaturwissenschaft und Kulturstudien über ihr Forschungsvorhaben und rückte dabei mehrere Paradoxa des kollaborativen Buchprojekts in den Mittelpunkt. Der Onlinevortrag „Grenzfälle des autobiographischen Schreibens: Karel Čapeks 'Hovory s T. G. Masarykem'“ wurde von der Prager Außenstelle des DHIW gemeinsam mit dem Collegium Carolinum München und dem Masaryks Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften organisiert. 

Im Laufe seines Lebens habe Masaryk zahlreiche soziale Rollen übernommen. Dies betonte die Vortragende gleich zu Beginn ihres Beitrags. Er sei ein sehr belesener Literaturfreund gewesen und habe tschechisch-, englisch-, deutsch- und russischsprachige Autoren kommentiert. Seine Korrespondenz bezeichnete Artwińska somit als nahezu unüberschaubar. Seine Bedeutung als Autor hingegen sei jedoch vergleichsweise gering ausgefallen, stellte die Vortragende fest, denn sein primärer Anspruch sei politisch anstatt von künstlerischer Natur gewesen. Literarische Werke habe er selbst nie verfasst. Wie auch das Sprechen in der Öffentlichkeit sei ihm das Schreiben generell nicht leicht gefallen. Als betagter Mann habe er viel über seine jugendlichen Versuche als Autor gescherzt und seine fehlende Eignung für das Schreiben ins Lächerliche gezogen. 

Gleichzeitig habe Literatur für Masaryk eine beispielhafte Relevanz besessen — und zwar als Medium, erklärte die Wissenschaftlerin. Aus Sicht des Politikers ermögliche die literarische Ästhetik einen wichtigen Zugang zur Welt, der durchaus komplementär zu einer wissenschaftlichen Herangehensweise verlaufen konnte und sollte. Bereits seit der Veröffentlichung seiner ersten wissenschaftlichen Schriften habe sich Masaryk für die Möglichkeiten einer autobiographischen Erzählung interessiert. Dieses Interesse habe er sich über die Jahre erhalten, auch zeichne es sich später in einigen seiner politischen Schriften ab. Mit zunehmendem Alter hätten sich seine Gedanken über eine mögliche Verschriftlichung der eigenen Lebensgeschichte intensiviert, so Artwińska. Zu seinem Leben habe er selbst einen positiven, affirmativen Zugang gehabt und verkündet, seine eigene Lebenserfahrung sei prägender gewesen als der Einfluss von Philosophen und Dichtern.

Trotz dieser guten Ausgangssituation habe das gemeinsame Buchprojekt mit Čapek für Masaryk auch zu erkennbaren Herausforderungen geführt. Diese analysierte Anna Artwińska im zweiten Vortragsteil. Das gemeinschaftliche Verfassen einer Autobiographie basiere auf dem Prinzip der Subjektivität und schöpfe vor allem aus nicht verifizierbaren Erinnerungen. Daher sei das Verhältnis zwischen „Wahrheit und Dichtung“ in gemeinsam verfassten autobiographischen Texten per se anders: Das Subjekt dieser Erzählung sei hier nicht mehr „die einzige Autorität“, da seine Erinnerungen von einer anderen Person gespeichert, bearbeitet und zu Papier gebracht würden. Hier ergebe sich eine doppelte Spannung für das Subjekt, dass einerseits auf die Verlässlichkeit des eigenen Gedächtnisses angewiesen sei und andererseits auf das Verständnisvermögen der schreibenden Person. Die absolute Offenheit in der Darstellung der eigenen Lebensgeschichte sei demzufolge unmöglich. 

Das Buchprojekt von Čapeks „Gespräche mit Masaryk“ stelle, so die Vortragende, ein besonders spannendes Beispiel für eine kollaborative Autobiographie dar. Nicht nur sei der Text aufgrund der Person und Biographie Masaryks und dessen Relevanz für die tschechische Kultur sehr bedeutend, das Buch veranschauliche zudem paradigmatisch all die Phänomene, die für diese Textform charakteristisch sind. Theoretische Probleme und Fragen zu Urheberrecht und Einheit des autobiographischen Ichs sowie die Spannung zwischen Monolog und Dialogizität machten den Text auch aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive hochinteressant.

Im Schlusswort verwies die Referentin noch einmal auf das Problem der kollaborativen Texte, bei denen Autor und der Erzähler nicht zusammenfallen, und kritisierte die Marginalisierung der sogenannten „Ghostwriter“, die in der europäischen Kultur häufig keinen guten Ruf genießen. Autor und Erzähler seien hier durch eine gewisse Distanz voneinander getrennt, das autobiographische Ich gesplittet. Die meisten in Kooperation verfassten Texte basierten auf einer Partnerschaft, die immer gewisse Ambivalenzen mit sich bringe. Und gerade weil die Linie so „dünn“ ist, dürfe die Rolle der Fragen stellenden Gesprächspartners bei der Analyse der kollaborativen Autobiographien nicht unterschätzt werden.

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