Totalitarismusforschung heute?

Wie ist Totalitarismusforschung aus heutiger Sicht vor dem Hintergrund erstarkender antidemokratischer und illiberaler Tendenzen zu bewerten? Über den sogenannten „Post-Totalitarismus“ referierte Thomas Lindenberger, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden, am 26. November 2019 am DHI Warschau sowie einen Tag zuvor in der Außenstelle Vilnius. In seinem Vortrag präsentierte er die Erforschung des Totalitarismus als Gegenwartsthema.

In der Einleitung wies er auf die Signalwirkung des Begriffes „Totalitarismus“ hin, die in den breit rezipierten öffentlichen Debatten nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems deutlich spürbar gewesen sei. In der Gegenwart verbinde man damit unzweifelhaft die doppelte Diktaturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren werde heute der diktatorische Charakter der DDR nicht mehr angezweifelt.  
Um die Entwicklung zur gegenwärtigen Forschung zu veranschaulichen, griff er auf die Geschichte des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung zurück. Angesichts der in vielen Bereichen als unvollendet angesehenen Revolution in der DDR, sei seitens der Politik Bedarf für eine kritische wissenschaftliche Begleitung des gesellschaftlichen Transformationsprozesses konstatiert worden, die durch Beschluss des sächsischen Landtags zur Institutsgründung geführt hatte. Als paradox erscheine dabei, dass das Institut aus heutiger Sicht selbst zum historischen Objekt avanciert sei. Politische Debatten um die Frage, inwiefern die DDR als Ganzes zu delegitimieren sei, hätten den Vorwurf begleitet, das Institut in Dresden fungiere lediglich als verlängerter Arm von Politikern, das sich für deren politische Agenda vereinnahmen lasse.

Laut Aussage Lindenbergers nahm das Konzept des Totalitarismus seinen Ausgang in den 1920er Jahren. Nach seiner Hochphase und der zunehmenden Politisierung während des Kalten Krieges sei es in den 1970er und 80er Jahren dann zunehmend von anderen Ansätzen, wie beispielsweise der Konvergenztheorie, abgelöst worden. Seine Revitalisierung erfuhr es schließlich mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems nach 1989. Darin sei die Ambivalenz des Begriffes offensichtlich geworden: Einerseits werde Totalitarismus als wissenschaftliches Analyseinstrument zur Erfassung von Diktaturtypen verstanden, andererseits trage er zum Schutz der Demokratie bei, indem er eine Reflexion über Gefahren ermögliche, die innerhalb einer Gesellschaft emportreten.

In der postkommunistischen Forschung beobachtet Lindenberger zudem eine „unübersichtliche Gemengelage des Post-Totalitären“. Dazu zählt er die Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit in den postkommunistischen Ländern, das westliche Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Osten („geistig-moralischer Triumphalismus“), die konkurrierende Thematik der NS-Diktatur sowie die Öffnung der Archive nach 1989. In Bezug auf die wachsende Kritik am westlichen, pluralistischen und kapitalistischen Modell habe die Totalitarismustheorie nivellierend gewirkt und so die Widersprüche der Westdemokratie überdeckt. Außerhalb der Forschungsbereiche habe sich ein antitotalitärer Grundkonsens in der öffentlichen gesellschaftlichen Debatte um die nationalsozialistische und kommunistische Vergangenheit etabliert, ohne dass Einigkeit über das Grundkonzept des Totalitarismus bestünde.

Unter dem Begriff der „illiberalen Demokratie“ fasst der Historiker die gegenwärtig in Europa zu beobachtenden antidemokratischen Züge, das Aufleben von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, zusammen. Sie dienen als mögliche Erklärung, wie sich aus liberalen Gesellschaften totalitäre Strukturen herausbilden. Als Herausforderung bezeichnete er die Suche nach alternativen Ansätzen zur Totalitarismustheorie, wie beispielsweise sozialwissenschaftliche Konzepte. Mögliche Herrschaftsbezeichnungen seien die „Ideokratie“, ideologisch fundierte Diktaturen oder der „Autoritarismus“, der Herrschaftsformen miteinschließe, welche die klassische Totalitarismustheorie nicht berücksichtige. Auch müsse man, wenn es um die Beantwortung der immer wiederkehrenden Frage gehe, ob die totalitäre Herrschaft möglich sei, ebenso die neuen Informationstechniken und Medien sowie das Phänomen der „Fake News“ mit ihrem manipulativen Charakter miteinbeziehen. Die klassischen dystopischen Romane, wie 1984 von George Orwell, würden gegenwärtig mehr denn je rezipiert und vor dem Hintergrund aktueller politischer Debatten neu interpretiert.

Die abschließende Diskussion knüpfte an diesen Punkt an, indem auf aktuelle Ereignisse und neuste wissenschaftliche Trends im Hinblick auf Totalitarismusforschung Bezug genommen wurde. Ferner wurden mit dem Warschauer Publikum die polnische Perspektive, die Frage um die Instrumentalisierung des Totalitarismusbegriffs sowie der Nostalgie-Begriff diskutiert. In Vilnius hingegen standen Fragen zu Totalitarismus und dessen Erforschung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion im Fokus. Die Diskussion kreiste dort vor allem um die Frage nach dem Ende des Totalitarismus in der Sowjetunion. In Bezug auf Litauen wurde bemerkt, dass die Erforschung des Totalitarismus an sich ein Desiderat darstellt.

22
Apr
Tagung
Workshop „Infrastructures of Memory. Actants of Globalisation and their Impact on German and Polish Memory Culture”
Mehr lesen