Über die Grenzen hinaus

Mit Veränderungen in osteuropäischen Grenzgebieten beschäftigten sich Catherine Gousseff (French National Center for Research) und Ruth Leiserowitz (DHIW) am 24. September. Die Keynote mit dem Titel „Beyond Borders. A Dialogic Keynote on East European Borderlands“ war Teil der internationalen Konferenz „Minorities, Migration and Memory in East European Borderlands (1945-present)“.

In ihrer Einleitung erläuterte Gousseff, dass der Topos der Grenzgebiete ihrer Auffassung nach im Laufe der letzten drei Jahrzehnte eine zentrale Position in den Sozial- und Geisteswissenschaften erlangt hätte. Sie unterschied die Konvergenz von drei Hauptfaktoren, welche die Dynamik von Grenzgebieten als Feld und Forschungsfeld mit sehr spezifischen Merkmalen erklären können, die sowohl aus der Perspektive der Extreme und dem Blickwinkel der Geschichte der Zerstörung als auch aus der Sicht des Zusammenlebens in der Vormoderne zu sehen sind. Diese drei Hauptfaktoren seien erstens der Versuch, sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges mit der Geschichte jenseits der nationalen Erzählung oder des so genannten „le grand récit“ auseinanderzusetzen. Auf der Suche nach der Konfrontation von Konzepten mit der Erforschung der Vergangenheit erscheine die Grenzregion als Hauptlabor des transnationalen Ansatzes. Zweitens sehe man mit dem Fall des Kommunismus und dem Ende des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ die Entstehung eines riesigen Versuchs, die Geschichte davor durch den Fokus der Gewalt zu schreiben. Dadurch seien die Ostgrenzen Europas zu einem der am besten untersuchten Gebiete für Konflikte geworden. Drittens sei eine Historiografie der Grenzgebiete im Kontext der Erinnerungsgeschichte entstanden, woraus sich einerseits Faszinationen für verlorene Welten entwickelt hätten, andererseits jedoch habe die Wiederentdeckung des Grenzgebiets als ehemaliges europäisches Labor multilateraler Gemeinschaften auch eine Reihe von Fragen zwischen Mythen und der Realität des „Zusammenseins“ aufgeworfen.

Leiserowitz stellte Ostpreußen als Prototyp einer Grenzregion vor. In der Zeit des Kalten Krieges habe man auf der Ostseite des Eisernen Vorhangs eine große Sprachlosigkeit über die Geschichte der Grenzgebiete verzeichnet. In der DDR, wohin die meisten Umsiedler aus Ostpreußen kamen, sei das Thema Ostpreußen nahezu tabuisiert worden. Darüber hinaus habe der Ulmer Prozess von 1958, in welchem Männer des Tilsiter Einsatzkommandos vor Gericht standen, auch das Vorurteil genährt, dass die Ostgebiete für Schreckenstaten des Zweiten Weltkriegs verantwortlich seien. Catherine Gousseff lenkte den Blick anschließend auf weitere Grenzgebiete und führte stellvertretend den Umgang mit der polnischen und ukrainischen Bevölkerung in der westlichen Ukraine an. Diese sei nach dem Zweiten Weltkrieg mit radikalen Bevölkerungsaustauschen und Umsiedlungen konfrontiert worden. Sie wies auf die geringe Zahl an Arbeiten über die „normale“ Zeit des Lebens hin, vor allem zwischen den Grenzkriegen. Leiserowitz ergänzte, dass es in der Einordnung der Geschichte der Grenzgebiete, die ein typisches Phänomen des östlichen Europas darstellten, immer wieder zu Über- oder Unterbewertungen komme.

In der abschließenden Diskussion veranlasste die Frage nach dem Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Grenzgebieten Catherine Gousseff zu der Vermutung, die „Borderland Studies“ seien im Zusammenhang mit dem „Memory Turn“ in der Geschichtswissenschaft zu betrachten. Die Themen und Diskussionen der folgenden Konferenztage verdeutlichten, wie stark die Geschichte der Grenzregionen mit den existierenden Erinnerungen interagiert.

24
Apr
Tagung
Longue duree der Regionalitäten
Mehr lesen