Verleumdungsklage gegen Holocaust-Forscher

Am 9. Februar 2021 will das Warschauer Bezirksgericht im Fall der Verleumdungsklage gegen die beiden Holocaust-Forscher Jan Grabowski und Barbara Engelking entscheiden. Die Geschichtsprofessoren Barbara Engelking und Jan Grabowski befassen sich in ihrem 2018 erschienenen Buch «Dalej jest noc» (Danach kommt nur noch die Nacht) mit der Vernichtung der Juden in der polnischen Provinz unter deutscher Besatzung. Die Autoren werden von der Nichte eines früheren Bürgermeisters aus dem ostpolnischen Dorf Malinowo wegen Verleumdung verklagt. Die Frau sieht die Erinnerung an ihren Onkel diffamiert, sie verlangt umgerechnet rund 22 500 Euro Entschädigung und eine öffentliche Entschuldigung der Autoren. (Quelle: dpa)

Diverse Organisationen, darunter auch die Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust Yad Vashem, haben in den vergangenen Tagen bereits auf die Verleumdungsklage reagiert. Sie zeigen sich besorgt und sehen in dem Prozess einen Versuch, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzuschüchtern. Lesen Sie im Folgenden die Stellungnahme unseres Institutsdirektors Prof. Dr. Miloš Řezník:

In einem Rechtsstaat hat jeder Bürger das unveräußerliche Recht, sich mit einer zivilrechtlichen Klage an das Gericht zu wenden, wenn er sich direkt oder indirekt verleumdet fühlt. Dieses Recht darf grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden – nicht einmal mit Verweis auf die Forschungsfreiheit. Es ist Aufgabe der Justiz zu beurteilen, ob und inwieweit der Verleumdungsverdacht berechtigt ist oder nicht. Die Voraussetzung hierfür ist, dass diese Entscheidung ohne (geschichts-)politischen Druck von Außen – von welcher Seite auch immer – getroffen werden kann. Zweifellos ist mit dieser Entscheidung auch die Frage verbunden, inwieweit dabei die verfassungsmäßig verankerte Freiheit der Forschung als Recht und allgemeines Interesse berücksichtigt wird.  

Die Klage sehen wir insoweit als potentielle Gefährdung dieser Freiheit, als sie von intensiven medialen Kampagnen begleitet wird, in welchen durchaus geschichts- und forschungspolitisch argumentiert wird. Noch schwerwiegender erscheint jedoch ein Symptom, das wir in verschiedenen Ländern mit diverser Intensität beobachten können: die Tendenz zur Verrechtlichung historischer Interpretationen. Diese zeigt den allgemeinen Verständnisverlust dafür, dass wissenschaftliche Interpretationen und Forschungsbefunde weder mit politischen Statements noch mit juristischen Beweisführungen verwechselt werden dürfen. Erst dann ergibt sich ein freier Raum dafür, sie einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen. Geht diese Unterscheidung verloren, ist jede Befürchtung um Forschungsfreiheit, insbesondere in den historischen Disziplinen, berechtigt. Die Annahme eines der Angeklagten, dass eine Einschüchterung vieler Kolleginnen und Kollegen bei der Erforschung der Themen aus der neuesten Geschichte und der Zeitgeschichte eintreten könnte, halten wir daher für begründet. Vor diesem Hintergrund könnte die anstehende Urteilsverkündung richtungsweisende Wirkung entfalten. 

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