Zeitordnungen im Prager Frühling

Im Anlehnung an die von Reinhart Koselleck formulierten Erkenntniskategorien „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ fragte Martin Schulze-Wessel in seinem Vortrag am 3. Juni danach, inwieweit sich diese zwei Kategorien in die Zeitgeschichte übertragen lassen und was mit dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont im Laufe des 20. Jahrhunderts geschah. Im Zentrum stand u.a. die Frage danach, ob sich beide Kategorien durch den Aufstieg wissenschaftlicher Prognosen und Planungen zunehmend annäherten oder sich hingegen mit der Zeit immer weiter voneinander entfernten.

Im gemeinsam von der DHIW-Außenstelle Prag, dem Collegium Carolinum München und dem Historischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften organisierten Vortrag präsentierte Schulze-Wessel die Ergebnisse seiner neuesten Forschung und damit zugleich den Inhalt seines kürzlich erschienenen Buches. Dabei bezeichnete er den Prager Frühling als einen Versuch, Probleme zu bearbeiten, die sich aus der Kluft zwischen den Erwartungen, die der Sozialismus geweckt hatte, und den spezifischen Erfahrungen im tschechoslowakischen Sozialismus der 1950er und 1960er Jahre ergaben.

Der Referent betonte, dass die sozialistischen Staaten eine real gewordene Erwartung des 19. Jahrhunderts repräsentierten. Der Sozialismus sei einer der wirkmächtigsten Bewegungsbegriffe gewesen, der im 19. Jahrhundert jedoch noch nicht die Realität, sondern vielmehr ein Zukunftsprojekt bezeichnete. Mit dem Beginn des Sozialismus wurde dieser Zukunftshorizont eingeholt. Zugleich machte die tschechoslowakische Gesellschaft, die sich nun an den alten Erwartungen abarbeitete, neue Erfahrungen mit dem Sozialismus. Dadurch erwuchs eine Spannung zwischen Erfahrungsraum und Zukunftshorizont, die kennzeichnend für die Geschichte der poststalinistischen Periode ist.

Im weiteren Verlauf wies Schulze-Wessel darauf hin, dass die Reformen des Prager Frühlings als Reaktion auf dieses Problem begriffen werden können. Bei den Reformvorhaben von 1968 habe es sich demnach nicht um ein kohärentes Programm gehandelt, vielmehr gelangten in diesem Jahr viele heterogene und widerspruchsvolle Ansätze zusammen — jedoch ohne Ergebnis. Die gewohnte enge Verbindung zwischen der Parteiführung und dem Volk war verloren gegangen; die Reformer wurden zu Opfern eines von ihnen selbst erzeugten Zeitdrucks.

Zum Schluss seines Vortrags betonte der Professor für Osteuropäische Geschichte, dass das Ende des Prager Frühlings die Spannung zwischen altem Erwartungshorizont und neuem Erfahrungsraum auf dramatische Weise verschärfte. Der Begriff des „real existierenden Sozialismus“ brachte zum Ausdruck, dass der ursprüngliche, marxistisch geprägte Erwartungshorizont und die empirische Realität auseinanderfielen. Der real existierende Sozialismus dokumentierte den Verlust seiner Utopie und seines theoretischen Anspruchs. Auf diese Realität des bloßen Regierens reduziert, war diesem Sozialismus keine lange Zukunft beschieden.

Martin Schulze-Wessel studierte Neuere und Osteuropäische Geschichte und Slawistik in München, Moskau und Berlin. Seit 2003 ist er Professor für die Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorsitzender des Collegium Carolinum. Zuletzt erschien: Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Stuttgart: Reclam 2018.

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