Julia Buyskykh ist Historikerin und Anthropologin. Sie steht kurz vor der Verteidigung ihrer zweiten Dissertation am irischen University College in Cork. Seit April ist sie Stipendiatin am DHI Warschau. Als Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich mit Schnittstellen zwischen Religion, Grenzen und Erinnerungen. Dabei untersucht sie, wie kreatives ethnografisches Schreiben die ethnografische Realität besser wiedergeben kann. Darum geht es auch in ihrem aktuellen Forschungsprojekt.
Julia, in deinem Projekt widmest du dich griechisch-katholischen Ukrainer:innen in Polen. Womit genau beschäftigst du dich?
In meiner Forschung geht es um anhaltende Auswirkungen der Zwangsumsiedlungen und Grenzveränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich untersuche den Einfluss auf das Zusammenspiel von Erinnerungen, Identitäten und religiösem Zugehörigkeitsgefühl der Menschen in Osteuropa. Meine aktuelle Studie konzentriert sich auf zeitgenössische Erfahrungen. Das betrifft z.B. Erinnerungen und Sichtweisen, welche von der ukrainische griechisch-katholische Gemeinde in Polen, die dort historisch verwurzelt ist, tradiert werden. Es ist eine Gemeinschaft, die einen dornigen Weg zurückgelegt hat: von einer zum Schweigen gebrachten Minderheit im Untergrund während der kommunistischen Ära hin zu einer eigenständigen, modernen Sprachgemeinschaft. Deren Rolle bei der Integration von Kriegsmigrant:innen aus der Ukraine gilt es noch zu untersuchen.
Was sind die wichtigsten Fragen, die du beantworten möchtest?
Für mich steht die Frage im Vordergrund, welche Rolle die Religion für Minderheiten bei der Entstehung und Aufrechterhaltung eines Gefühls von Zugehörigkeit, Kontinuität und letztlich Heimat gespielt hat, vor allem angesichts der katastrophalen historischen Umwälzungen und Vertreibungen. Ich frage mich auch, was wir von Menschen lernen können, die ihre Heimat an schwierigen Orten oder in schwierigen Zeiten aufbauen. Daraus können wir Lehren über Widerstandsfähigkeit, Ausdauer, kollektive Kontinuität und Menschlichkeit ziehen – vor allem jetzt, angesichts des anhaltenden russischen Angriffskriegs in der Ukraine
In der Beantwortung dieser Forschungsfragen bist du bereits recht weit fortgeschritten. Wie sah deine Arbeit zum Thema bisher aus?
Zunächst habe ich drei Standorte für die Feldforschung in Polen bestimmt: Biały Bór, Warschau und Przemyśl. Mein methodischer Ansatz war die Multi-Site-Ethnografie. Für jeden Ort habe ich wichtige Schlüsselfiguren gewinnen und mit zehn Personen bereits Interviews führen können. Eine weiterer Teil meiner bisherigen Arbeit waren teilnehmende Beobachtungen. Ich konnte zwei Wallfahrten und drei Pfarrfesten beiwohnen und an vielen weiteren kollektiven Gedenkliturgien an jedem Standort teilnehmen.
Gab es eine interessante Erkenntnis, die du nicht erwartet hattest?
Ursprünglich habe ich mich mit einer großen Gedenkwallfahrt beschäftigt. Das hat mir geholfen, die Erfahrungen einer größeren Gemeinschaft zu strukturieren, die durch eine Vielzahl von zeitgenössischen Ereignissen geprägt sind. Dazu zählten zum Beispiel Invasion, Vertreibung, Integration und die unterschiedlichen Erfahrungen verschiedener Generationen. Jetzt habe ich noch ein weiter vezweigtes Netzwerk entdeckt: ein dezentrales Netzwerk dörflicher Sakralräume. Diese werden von einer größeren und verstreuten Gruppe griechisch-katholischer Ukrainer:innen von beiden Seiten der polnisch-ukrainischen Grenze unterhalten und regelmäßig besucht. Diese Geografie der Frömmigkeit geht über das traditionelle Gefühl von Zugehörigkeit und Grenzen in einer Weise hinaus, die ich zu Projektbeginn nicht erwartet hatte.
Zu deiner Forschung gehört auch die Arbeit im Feld. Wie verlief deine Feldforschung bisher und was hast du dabei herausgefunden?
Engagierte teilnehmende Beobachtung ist intensiv und kräftezehrend. Dennoch gehört sie für mich zu den erfüllendsten Forschungsarbeiten, die es gibt. Tage und Wochen in der Gesellschaft von Menschen zu verbringen, die so großzügig sind, ihr eigenes Leben zu öffnen und mich zu unterstützen, war bewegend und äußerst bereichernd – sowohl persönlich als auch beruflich. Wenn ich dabei eine wichtige Erkenntnis gewonnen habe, dann die, dass die Großzügigkeit der Menschen, mit denen ich mich im Rahmen meiner Forschung beschäftige, keine Grenzen zu kennen scheint. Sie sind zuvorkommend und opfern ihre Zeit und Mühe. Dabei folgen sie ihren religiösen Grundsätzen. Diese lehren es ihnen, zu vertrauen, zu erklären und sich zu kümmern. Ihr Engagement für ihren Glauben bestimmt ihre Reaktion auf die Widrigkeiten, die ihnen sowohl historische als auch aktuelle Ereignisse bereiten. Das zu verstehen, war für mich eine Offenbarung, die ich bei meiner Feldarbeit mit ihnen immer mehr zu schätzen gelernt habe.
Doch die Feldforschung ist nicht der einzige Teil deiner Arbeit. Auch am DHI Warschau verbringst du viel Zeit. Was sind deine sonstigen Erfahrungen mit dem Institut?
Langfristige Feldforschung kann oft einsam sein. Vor allem während man Forschungsergebnisse sammelt und analysiert. Die Kolleginnen und Kollegen am Institut haben sich durchweg als sachkundig, professionell und engagiert erwiesen. Ich freue mich darauf, meine Verbindung zum Institut weiter auszubauen. Das profunde Fachwissen der Mitarbeiter:innen und der anderen Gastwissenschaftler:innen wird mir hoffentlich helfen, meine Daten besser zu verstehen und auswerten zu können. Als Teil einer Gruppe von Gleichgesinnten freue ich mich auch über Gelegenheiten, bei denen ich meinen Kolleg:innen etwas zurückgeben kann. Wo ich kann, helfe ich gerne, ihre Erkenntnisse zu vertiefen. Ein geeigneter Rahmen sind die lebhaften Kolloquien, in denen wir unsere Forschungsarbeiten vorstellen und besprechen. Insgesamt verfolgt das Institut ein Modell der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, das beispielhaft ist.
Mehr zum Thema: Lesen Sie hier Julia Buyskykhs Artikel über die sich verändernde Natur der Grenzen und ihre Auswirkungen auf die Identitäten und Schicksale der Menschen im heutigen Europa in Zeiten des Krieges: https://trafo.hypotheses.org/52315.