CfP: „The Circle of Life” – Geburt, Sterben und Liminalität seit dem 19. Jahrhundert

Geburt und Sterben sind die einzigen Erlebnisse im Leben, die einem jeden Menschen widerfahren – ohne dass er in der Lage ist, darüber zu berichten. Als existenzielle Übergänge in jedem menschlichen Leben haben sie eine grundlegende Bedeutung für jede Gesellschaft. Überraschenderweise werden sie in der historischen Forschung isoliert voneinander betrachtet. Anders hingegen interpretieren Anthropolog:innen und Ethnolog:innen sie seit Langem als miteinander verbundene Praktiken, wie in den Konzepten von ‚Liminalität‘ und ‚Übergangsriten‘ aus der Feder von Arnold van Gennep und Victor Turner. Diese beobachteten, dass in unterschiedlichen Kulturen in Anhängigkeit von ihren inhärenten kulturellen Vorstellungen und Praktiken verschiedene Herangehensweisen an diese Phänomene existieren.

Übergangsriten und liminale Übergänge haben jedoch nicht nur eine kulturelle Dimension, sondern unterliegen auch dem historischen Wandel. Dies ist in modernen Gesellschaften erkennbar, in denen Prozesse der Säkularisierung, Modernisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung massive Auswirkungen auf Glaubenssysteme und auf das Alltagsleben haben. Daher beeinflussen diese Prozesse auch die Bedeutung von Liminalität und Übergangsriten, die Gegenstände von öffentlichen Diskursen, politischen Entscheidungen und rechtlichen Bestimmungen sind. Zwei Beispiele seien an dieser Stelle angebracht: Sogenannte ‚Pro-Life‘-Gruppen versuchen die Definition des Beginns des Lebens so zu verändern, dass der Moment, ab dem ein Staat verpflichtet ist, ‚das Leben‘ zu schützen, vorverlegt wird. Das ‚Heartbeat Law‘ in Texas oder die Entscheidung des polnischen Verfassungstribunals vom Oktober 2020, aber auch historische Diskurse wie die Debatten vor dem Referendum in der Republik Irland in den frühen 1980er Jahren zeigen die Wirkmacht dieser Diskussionen über den liminalen Übergang der Empfängnis in modernen Gesellschaften. In ähnlicher Weise haben Debatten über Sterbehilfe eine breite internationale Kontroverse über die Frage, wann das Leben endet, ausgelöst – sowie über die Frage, wie Menschen „in Würde“ sterben können, wenn die medizinischen Möglichkeiten der Verlängerung der Lebenszeit weiter voranschreiten. Während die ethische und rechtliche Legitimität von Sterbehilfe in den meisten Ländern diskutiert wird, sind passive Formen der Palliativmedizin im Allgemeinen akzeptiert, sogar in katholischen Gesellschaften.

Weil sie individuelle sowie intime Aspekte des menschlichen Lebens betreffen und sie für Gesellschaften von vorgehobener Bedeutung sind, tendieren das Nachdenken und Sprechen über Liminalität und Übergangsriten dazu, kontrovers diskutiert zu werden. Die liminalen Übergänge Empfängnis, Geburt/Gebären, und Sterben zeigen beispielhaft die generelle Ambivalenz, die Liminalität und Übergangsriten in politischen Diskussionen sowie in der Entstehung und Verstetigung komplexer rechtlicher Implikationen hervorrufen.

Wir laden Forschende, die sich mit Liminalität und Übergangriten beschäftigen, ein, an unserer Konferenz teilzunehmen. In dieser wollen wir die verschiedenen Konzepte von Liminalität sowie die Praktiken von Übergangsriten aus einer historischen Perspektive heraus analysieren, wobei moderne industrielle Gesellschaften im Fokus unserer Betrachtungen stehen sollen.

Wir lassen uns von folgenden Forschungsfragen leiten:

-          Wie handhaben moderne, vor allem pluralistische Gesellschaften die oben erwähnten liminalen Übergänge am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens?

-          Welche Faktoren und Prozesse haben einen Einfluss auf Veränderungen im Verständnis und in der Interpretation dieser Übergänge?

-          Wie reagieren moderne Gesellschaften und ihre verschiedenen Untergruppen auf soziale Veränderungen, Wertewandel und wissenschaftliche Innovation/Erkenntnisse im Hinblick auf liminale Übergänge wie Empfängnis, Geburt/Gebären und Sterben?

-          Welche Vorstellungen, Ideen und (rechtliche) Traditionen beeinflussen die legislative Regulierung dieser Übergänge?

 

Der Workshop findet am Deutschen Historischen Institut in Warschau am 1. und 2. September 2022 statt und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Im Falle von Reisebeschränkungen im Zuge der Sars-CoViD-19-Pandemie wird der Workshop in einem hybriden oder gänzlich digitalen Rahmen stattfinden. Arbeitssprache ist Englisch. Die Reisekosten von eingeladenen Teilnehmer:innen werden erstattet, und die Unterkunft wird vom Deutschen Historischen Institut Warschau gestellt.

Vorschläge für eine 20-minütige Präsentation mit Titel, einem kurzen Abstract (ca. 300 Wörter), einer Kurzbiografie (eine halbe DIN A4-Seite), den Kontaktdaten und der institutionellen Einbindung sind bis zum 30. April 2022 an die Organisatoren Michael Zok (zok@dhi.waw.pl) und Florian Greiner (florian.greiner@ebert-gedenkstaette.de) zu richten.

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