Die Bedeutung des Sommers

„Leisure History(ies): The Significance of Summer in the Biography“, lautete der Titel des hybriden Workshops, der — organisiert von der DHIW-Außenstelle Vilnius — vom 2. bis 3. Juni im Thomas-Mann-Museum in Nida stattfand. Die zweitägige wissenschaftliche Veranstaltung wurde in Kooperation mit den Museen von Neringa und dem Thomas-Mann-Kulturzentrum durchgeführt. Gemeinsam diskutierten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Litauen, Deutschland, Polen, Österreich und Kanada über Sommererlebnisse und Freizeitaktivitäten im 19. und 20. Jahrhundert. Der Workshop zielte darauf ab, die Erfahrungen des Sommers und seiner Freizeitaktivitäten aus der Perspektive von individuellen und familiären Biografien zu untersuchen.

Die Direktorin der gastgebenden Institution, Lina Motuzienė, und die Leiterin der DHIW-Außenstelle Vilnius, Gintarė Malinauskaitė, eröffneten gemeinsam die Veranstaltung, die nach über siebenmonatiger Pause als erste Hybridveranstaltung und noch vor dem meteorologischen Sommeranfang stattfinden konnte. Im ersten Beitrag stimmte Nijolė Strakauskaitė (Juodkrantė) in die Region des Veranstaltungsortes ein, indem sie ausführlich darlegte, auf welche Art und Weise das Nehrungsdorf Schwarzort im 19. Jahrhundert zu einem Ferienort aufgestiegen sei.

In der folgenden Keynote fragte Ruth Leiserowitz (Warschau), ob ein Sommer für Biografien prägend wirken kann, inwiefern der Sommer eine Zäsur bzw. eine bestimmte Phase im Jahr oder in der Biografie darstellt und wie sich das Phänomen der Sommerreisen entwickelt hat. Sie führte aus, dass die Gegebenheiten dieser Jahreszeit wahrscheinlich häufiger als andere Jahreszeiten biografische Erfahrungen ermöglichen, die in höherem Maße zu Schlüsselmomenten, gerade in der Phase des Erwachsenwerdens, würden. Dazu trügen Faktoren wie gelockerte Konventionen, Ortsveränderungen, Reisen, Ferienlaune und Urlaubsstimmung bei. In gewisser Weise sei Sommer auch als Familienzeit zu begreifen, als Moment familiärer Intimität, der Abstoßungs- und Annäherungsprozesse beinhalte.

Waltraud Schütz (Wien) und Gintarė Malinauskaitė (Vilnius) setzten die Diskussion über Sommererlebnisse im 19. Jahrhundert fort. Schütz untersuchte die Sommererfahrungen in einer Wiener adeligen Geschwisterkorrespondenz der 1820er bis 1850er-Jahre mit dem Fokus auf Fallbeispiele der Sommererlebnisse von Frauen aus der Adelsfamilie Hoyos. In ihrem Vortrag zeigte die Historikerin, wie soziale Räume, in denen Sommertage verbracht wurden, vergeschlechtlicht worden seien und wie neue Praktiken der Freizeitgestaltung dazu beigetragen hätten, soziale Gruppen und die Gesellschaft neu zu gestalten. Dazu argumentierte die Vortragende, dass die Sommerzeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl für Frauen als auch für Männer nicht nur eine Zeit des Vergnügens gewesen sei, sondern auch eine Phase, in der man ständig Kontakte knüpfte und Beziehungen pflegte, die für das zukünftige Familienleben von großer Bedeutung waren.

Gintarė Malinauskaitė analysierte anhand der Tagebücher der Adligen Gabrielė Giunterytė-Puzinienė, die einige Jahrzehnte später geschrieben wurden, nostalgische Sommererinnerungen des litauischen Adels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus ihrer Sicht sind Kindheitserinnerungen an die Sommerzeit ein wichtiges Element der Selbstwahrnehmung und der Familiengeschichte. Wie sie in ihrem Vortrag erläuterte, hätten die Sommerreisen von Giunterytė-Puzinienė und ihr Sommerleben auf dem Familiengut zu ihrer Selbstidentifikation und Bildung beigetragen. Die Referentin argumentierte, dass die nostalgischen Erinnerungen von Giunterytė-Puzinienė nicht nur die vergangenen sommerlichen Freizeitaktivitäten dokumentierten, ondern ebenfalls als eine emotionale Reaktion auf die Abwesenheit und den Verlust ihrer engsten Familienmitglieder und Verwandten fungiert hätten.

Ein weiteres Panel befasste sich mit Momenten der Freizeit im Vorkriegslitauen. Juozapas Paškauskas (Vilnius) erörterte Freizeitpraktiken der Arbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er arbeitete dabei heraus, dass sich die Arbeiter bemüht hätten, sich mit ihren gewählten Freizeitpraktiken an die nach Modernisierung strebende Gesellschaft anzupassen. Dabei hätten die zunehmende Alphabetisierung und Bildung, der wissenschaftliche und technische Fortschritt sowie die klarer geregelten Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit Einfluss gezeigt.

Mit ihrem Beitrag zu den Sommermonaten in Klaipėda (1923–1939) lenkte Dovilė Balaitytė (Klaipėda) den Blick wieder auf die gastgebende Region. Sie konnte in ihrer Präsentation nachweisen, wie stark staatliche Stellen, nachdem Klaipėda Teil der Republik Litauen geworden war, begonnen hätten Freizeitaktivitäten zu organisieren, um Urlauber in die Region zu locken. Zu dieser Zeit hätte es konkurrierende visuelle und textliche Darstellungen der Stadt in Deutschland und Litauen gegeben, die stets aktualisiert worden seien. Diese Aktualisierung habe dem Ziel gedient, Klaipėda als Reise- und Urlaubsziel sowohl bei Litauern als auch bei Deutschen zu bewerben.

Ula Madej-Krupitski (Montreal) eröffnete das Panel zum Thema „Sommerreisen, Identität und Politik“. Sie untersuchte die Urlaubserfahrungen der polnisch-jüdischen Jugendlichen in der Zweiten Polnischen Republik. Anhand ausgewählter Ego-Dokumente und Medienberichte zeigte sie, wie die polnisch-jüdische Jugend den Sommertourismus angenommen und von den neuen sozialen und kulturellen Erfahrungen profitiert habe. Die Referentin argumentierte, dass Sommerreisen der polnisch-jüdischen Jugend ermöglicht hätten, ihre kulturellen Grenzen zu überschreiten und neue Begegnungen mit anderen ethnischen Konfessionen sowie auch mit Juden aus anderen Orten und Gemeinden evoziert hätten. Anschließend befasste sich Robert Obermair (Salzburg) mit dem Phänomen der Sommerfrische als Schnittpunkt von Freizeit und politischem Engagement. Am Beispiel des späteren nationalsozialistischen Unterrichtsministers Oswald Menghin und seiner Familie zeigte er auf, wie sich Freizeit und politische Aktivitäten in der Zeit der damals sehr wichtigen jährlichen Sommerfrische verzahnt hätten. Er beleuchtete den landschaftlichen wie auch den politischen Reiz, den die Region Mattsee für einen Wiener Intellektuellen der politischen Rechten geboten habe. Diese Region, in der die Familie Menghin ihren Sommerurlaub verbrachte, sei nicht nur aufgrund ihrer schönen Landschaft und der vielen Freizeitmöglichkeiten bevorzugt worden, sondern auch, weil sie sich bereits in den 1920er Jahren für „judenfrei” erklärt hatte.

Das letzte Panel griff die bereits eingangs aufgeworfene Frage auf, ob ein Sommer prägend für Biografie wirken könne. Hier stand wieder eine lokale Perspektive im Mittelpunkt, denn Andreas Kurt Born (Mainz) schilderte den Fluchtsommer 1944 aus dem Memelland. Er legte dar, dass sich im Laufe der Zeit aus den Sommer-, Freizeit- und Familienerinnerungen das Bild einer neuen, idealisierten Heimat Ostpreußen entwickelt hätte, das auch interfamiliär weitergegeben worden sei. Anderseits habe es langfristige gesundheitliche Folgen von Flucht und Vertreibung für nachfolgende Generationen gegeben, weswegen die Sommererlebnisse von 1944 nachhaltige Folgen für mehrere Generationen gehabt hätten.

Mariya Savina (Berlin) präsentierte die Darstellung der Sommererfahrungen in autobiografischen Texten Walter Benjamins und konzentrierte sich dabei vor allem auf sein im Exil entstandenes und posthum veröffentlichtes Buch Berliner Kindheit um 1900. Savina zeigte auf, dass Benjamin in diesem Buch die Sommer seiner Kindheit als nostalgische Erfahrung schildere. Sie stellte fest, dass seine Kindheitserinnerungen als gängiges Bild einer bürgerlichen Kindheit in Berlin an der Wende des 19. und 20. Jahrhundert funktionierten. Savina wies darauf hin, dass Benjamins Kindheitserinnerungen und spätere autobiografische Texte eng miteinander verbunden seien, da er später versucht habe, seine Sommererlebnisse aus der Kindheit durch nachgestellte Erfahrungen in das Erwachsenenalter zu übertragen.

Aus der abschließenden Diskussion ließ sich festhalten, dass die Untersuchung des Phänomens „Sommer“ vor dem Hintergrund individueller und familiärer Biografien viele Schnittmengen zwischen Geschichte und Natur biete. Darüber hinaus lieferte sie auch neue Einsichten für das Studium der modernen Sozialgeschichte. Somit lässt sich dieses innovative Thema an der Schnittstelle von Sozial- und Kulturgeschichte ansiedeln, offeriert aber auch kleine Abstecher in die Politik- und Emotionsgeschichte sowie interessante regionale Zugriffe.

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