Die Bedeutung von Religion im Russischen Reich

Elizaveta Naryshkina Фотография Quelle: Wikimedia Commons

Äbtissin Mitrofanija (Baronin Rozen) Quelle: wikimedia commons

Äbtissinnen, Hofdamen und Unternehmerinnen im Russischen Reich: Welche Bedeutung hatte das Religiöse für adlige Frauen im Russischen Reich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts? Welche Rolle nahm die Sphäre des Kirchlichen im Leben dieser Damen ein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Sandra Dahlke in ihrer aktuellen Forschung.

Diesem Thema widmete die Direktorin des DHI Moskau auch ihren Vortrag am 29. März, zu dem  das DHI Warschau gemeinsam mit seiner Außenstelle Vilnius einlud. Am Beispiel autobiographischer Texte adliger Frauen im Zarenreich beschrieb sie die Bedeutung von Religion und der Sphäre des Kirchlichen und analysierte auch die Verknüpfung dieser Sphären mit dem Weltlichen und dem Politischen.

Im Zentrum standen die Erinnerungen von zwei adligen Damen: Elizaveta Naryshkina (1838-1928) und Praskovʼija Rozen (1825-1898). Beide Frauen standen in enger Verbindung zum kaiserlichen Hof und besaßen einen erheblichen Einfluss. Elizaveta Naryshkina stand bis 1917 im Rang der Oberhofmeisterin im Dienst der Kaiserlichen Familie und Praskovʼija Rozen wuchs als Tochter des Generalgouverneurs Baron Rozen auf. Damit seien die autobiographischen Aufzeichnungen dieser beiden Damen einerseits wertvolle Dokumente für die Analyse der Bedeutung von Religion und Sphäre des Kirchlichen, so Dahlke, andererseits lieferten sie Informationen darüber, wo sich die Bereiche des Religiösen und des Gesellschaftlichen bzw. Politischen 

überschnitten. Dahlke zufolge lassen sich an diesen Texten Hinweise zur Vorstellungswelt, zu Möglichkeitsräumen und Ambitionen ihrer Verfasserinnen ablesen, weshalb sie sie als wichtige Quellen für die Analyse der Welt- und Selbstwahrnehmung der Frauen in dieser Zeit bezeichnet.

Die Texte seien auf drei unterschiedliche Arten zu lesen: als sozialgeschichtliche Quelle, als Aufzeichnung eines bewussten Lebensvollzugs und als Versuch, das eigene Leben kohärent zusammenzufügen. Entstanden seien die Dokumente als Teil eines autobiographischen Booms, der mit der Periode der Großen Reformen begann. Die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sei durch eine Reihe gravierender Umbrüche gekennzeichnet gewesen, mit denen sich auch das Leben der adligen Frauen im Russischen Reich änderte. Es kam zum Ende der ihnen vertrauten Gesellschaftsform. Die Periode der Großen Reformen habe schließlich den Beginn eines Anstiegs autobiographischer Texte markiert. In ihren Aufzeichnungen verarbeiteten die Damen ihre Umbruchs- und Verlusterfahrungen (Verlust der „alten Zeit“) und schrieben ihre Weltsicht nieder. Gleichzeitig hätten diese Texte neue Möglichkeiten eröffnet, seien zu einem „Experimentierfeld für neue Identitäten“ geworden. Aus diesem Grund seien sie als eine Art „Streitschrift gegen neue Zeit“ zu lesen, erklärte die Historikerin. Ihrer Ansicht nach offenbare sich darin die kritische Beteiligung der beiden Autorinnen an wichtigen politischen, kulturellen und theologischen Diskussionen jener Zeit. 

Die Religion sei in dieser Zeit zu einem Feld geworden, in dem Frauen Handlungsmöglichkeiten besaßen und so auch politisch Einfluss nehmen konnten. Für beide Frauen sei sie der Kern ihrer politischen Visionen und ihrer Vorstellungen vom guten Regieren gewesen. Praskovʼija Rozen, die als Äbtissin Mitrofanija lange in einer klösterlichen Gemeinschaft gelebt hatte, habe sich beispielsweise gut mit militärischer Disziplin und Fürsorge identifizieren können. Abschließend betonte Sandra Dahlke noch einmal, dass Religion für adlige Damen im Russischen Reich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht nur als Instrument der Selbstermächtigung fungierte, sondern auch einen größeren Handlungsrahmen für diese Frauen eröffnete. In diesem konnten auch die beiden exemplarisch betrachteten Damen einen bedeutenden Einfluss ausüben. 

An den wissenschaftlichen Online-Vortrag schloss sich eine virtuelle Diskussion an. Darin wurde u.a. die Frage danach gestellt, inwieweit der deutsche Bildungsroman die vorgestellten autobiographischen Texte der beiden behandelten Autorinnen beeinflusst habe. Ein weiterer Diskussionspunkt war die Umsetzung des Bildungsideals in ihren Schriften. Die Veranstaltung war Teil der Reihe „Montagsvorträge“ und wurde in Zusammenarbeit mit der Universität Vilnius und dem Litauischen Historischen Institut organisiert.

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