Die Rolle des privaten Unternehmertums im Staatssozialismus

Im letzten Vortrag unserer Prager Außenstelle im Jahr 2022 stellte Max Trecker (Leipzig) einen Teil seines Forschungsprojekts vor. In diesem untersucht er die komplexe Beziehung zwischen dem Wirtschaftsunternehmertum und der kommunistischen Diktatur. Er fragte nach Zielen für die staatssozialistischen Wirtschaftsreformen in den 1980er Jahren im Hinblick auf die künftige Rolle privater Unternehmen. Wirtschaftsreformversuche, erklärte der Historiker, hätten in eine imaginäre harmonische Vergangenheit zurückkehren wollen und seien daher besonders „konservativ“ gewesen.

Ostdeutsche Reformen hätten ihr Vorbild in den 1960er Jahren gesehen, als kleine private Unternehmen und große öffentliche Kombinate eine angeblich effektive Arbeitsteilung eingeführt hatten. Ein wiederauflebender Privatsektor hätte schließlich die Staatswirtschaft stabilisieren sollen.
Einleitend erklärte Trecker, die Wirtschaftspolitik der SED werde oft als „orthodox“ bezeichnet. Bis auf wenige Ausnahmen Mitte der 1960er Jahre sei die ostdeutsche Parteileitung feindlich gegenüber allen Wirtschaftsreformen gewesen, die von ihren ungarischen oder polnischen Kollegen eingeführt wurden. Während in Ungarn und Polen ab den 1960er Jahren private Unternehmen entstanden, habe die ostdeutsche Parteielite an der zentralen Planung der alten Schule festgehalten. Diese Interpretation jedoch kritisierte der Vortragende. Er bezeichnete sie als sehr vereinfacht und wies darauf hin, dass die SED bis 1972 nie versucht habe, die gesamte Wirtschaft zu verstaatlichen – im Gegensatz zu Polen und der Tschechoslowakei, wo in den 1950er Jahren sogar kleine Handwerksbetriebe verstaatlicht wurden.

Im Folgenden führte Trecker seine Analysen aus und belegte sie mit Zahlenbeispielen. In der DDR sei ein zahlenmäßig kleiner, aber leistungsfähiger Mittelstand entstanden, der als Zulieferer der großen Staatskombinate seine Daseinsberechtigung gefunden habe. Dies sei im Grunde auch in Westdeutschland geschehen, obwohl sich dort die meisten großen Unternehmen in Privatbesitz befunden hätten. Wie der Historiker erklärte, waren 1980 noch 5,2 Prozent der ostdeutschen Erwerbstätigen in der Privatwirtschaft beschäftigt. In Polen und Ungarn lagen die Zahlen im selben Jahr bei 4,9 bzw. 3 Prozent. Mitte bis Ende der 1980er Jahre habe es in der DDR noch immer mehr als hunderttausend aktive Privatunternehmen gegeben. Obwohl sie nur 4 Prozent zur Wirtschaftsleistung beisteuerten – nun weniger als ihre polnischen Kollegen – hätten viele dieser Unternehmen dringende Lücken in der Konsumwirtschaft gefüllt, insbesondere im Dienstleistungssektor.

Die Suche nach einem „guten“ Sozialismus sei jedoch nicht allein dem reformorientierten Flügel der SED vorbehalten gewesen. Auf ähnliche Weise habe sich der sowjetische Parteichef Gorbatschow von der leninistischen Kultur und Politik der 1920er Jahre zum Programm der Perestroika inspirieren lassen. Hier jedoch gebe es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Sowjetunion und der DDR: Während sowjetische Reformisten über NEP oder polnische, ungarische und jugoslawische Experimente diskutiert hätten, seien diese nie in internen Reformvorschlägen der Modrow-Regierung aufgetaucht. Das beweise nicht unbedingt, dass die ostdeutschen Reformsozialisten nie nach Osten geschaut hätten. Sie hätten sich mehrmals mit ungarischen Vertretern getroffen, um Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verhandeln. Beide Seiten seien daran interessiert gewesen, ihren wirtschaftlichen Austausch aufrechtzuerhalten. Der ostdeutsche Ministerrat habe die ungarische Führung ernster genommen als die ihres polnischen Nachbarn, der gleichzeitig einen schmerzhaften sozioökonomischen Wandel durchmachte.

Für die DDR sei es am besten gewesen, ein schrittweises Reformprogramm zur Marktwirtschaft zu verabschieden. Mit dieser Behauptung schloss Max Trecker seinen Vortrag. Die DDR habe über ein starkes Erbe legalen privaten Unternehmertums verfügt, das politisch sowie gesellschaftlich akzeptiert worden sei und relativ reibungslos mit geringer Korruption funktioniert habe. Zwar habe es auch in der DDR eine Schwarzmarktwirtschaft gegeben, jedoch nicht in so großem Ausmaß wie in anderen staatssozialistischen Ländern. Schwarzmarktaktivitäten, erklärte Trecker, seien im Allgemeinen nicht mit Unternehmertum oder Kleinunternehmen in Verbindung gebracht worden. Die ökonomische Schocktherapie, die mit der Wiedervereinigung verhängt wurde, verurteilte schließlich die verbliebenen ostdeutschen Privatunternehmen zum Scheitern.

Den letzten Vortrag im Kalenderjahr 2022 organisierte die Prager Außenstelle des DHIW am 14. Dezember gemeinsam mit dem Collegium Carolinum, dem GWZO Prag und dem Institut für Zeitgeschichte der tschechischen Akademie der Wissenschaften.


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