Die ungleiche Entwicklung der Regionen in der Vormoderne

 

Bereits seit dem Mittelalter zeichnet sich Europa durch Entwicklungsunterschiede aus. Das steigende Interesse der Geschichtswissenschaft an angeblich benachteiligten oder weniger „fortgeschrittenen“ Gebieten Europas gegenüber dem „alten Europa“ wurde zum Schwerpunkt der internationalen Tagung, die vom 4.–5. November 2021 in der Prager Außenstelle des DHI Warschau veranstaltet wurde. Akademikerinnen und Akademiker aus Deutschland, Tschechien, Polen, sowie Litauen, Norwegen, der Ukraine und Aserbaidschan behandelten das Thema aus verschiedenen Perspektiven. Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse des 12. bis 15. Jahrhunderts wurde so den bereits in der Vormoderne bestehenden Entwicklungsunterschieden vergleichend nachgegangen. 

Ausgangspunkt der Konferenz war das Modell des „jüngeren Europas“ („Młodsza Europa“) von Jerzy Kłoczowski, das sich auf die Kerngebiete Ostmitteleuropas seit dem frühen Mittelalter bezieht, in einigen Phasen jedoch auch die Rus’ und den Balkan einschließt und bis Skandinavien hinausgreift. Diskussionen über die Tragfähigkeit dieses Erkenntnismodells stützen sich vor allem auf die Kritik des Essentialismus und des räumlichen Positivismus Kłoczowskis. Die fehlende kulturgeschichtliche Problematisierung regionaler Unterschiede trägt nämlich zu einem einheitlichen Eindruck vom „alten“ und dem „jüngeren Europa“ gegen Ende des Mittelalters bei.

Im Fokus der Tagung standen insbesondere Interaktionen und Konfrontationen verschiedener Regionen mit ökonomisch und gesellschaftlich dynamischen Strukturen. Einerseits trugen Prozesse wie die Monetarisierung und der Ausbau von Handelswegen sicherlich zum kulturellen Austausch und dem Verwischen regionaler Unterschiede bei. Auf der anderen Seite zeigte sich am Beispiel „kurzlebiger“ Münzen (Denare, Pfennige, Brakteaten) und periodischer Neuprägungen, dass in den weniger entwickelten Regionen Ostmitteleuropas eine spezifische Geldpolitik verbreitet war – im Unterschied zur „alteuropäischen“ Methode der Geldabwertung der „langlebigen“ Währung im Spätmittelalter. Die Abhängigkeit der Region vom allmählichen Transformationsprozess des transkontinentalen ökonomischen Systems und von der Qualität der Handelsrouten wurde ebenfalls am Beispiel der ost-aserbaidschanischen Stadt Täbris verdeutlicht. Schließlich stand der Handel der Hanse mit den Gebieten der heutigen Ukraine unter dem Einfluss deutscher Städte und des Magdeburger Stadtrechts.

Ein vergleichender Blick auf verschiedene Wirtschaftsräume in Europa zeigte, dass ihre ungleiche Entwicklung nicht allein durch geographische Gegebenheiten bestimmt war. Im Zuge der ungleichen Entwicklung vertiefte sich die Hierarchisierung, die neue Ausschließungen und Beschränkungen schuf. Als sogenannte „interne Peripherien“ entstanden, gingen diese Differenzen quer durch die einzelnen Staaten. Eine Schlüsselrolle bei der Implementierung neuer Gesellschaftsordnungen kam dabei lokalen Eliten zu, die Kontakte zu „Kerneuropa“ aufbauten. Beim Vergleich Polens und Norwegens weisen die Selbstlegitimierungspraxen dieser Eliten Berührungspunkte in Ideologie und politischer Kultur auf. Historische Veränderungsprozesse sind folglich eher vom Handeln zentraler Akteure abhängig, was im Detail am Beispiel der Mark Brandenburg gezeigt wurde, die als eine der schwächsten Regionen des Heiligen Römischen Reiches später bedeutende Transformationsprozesse durchmachte. 

Ebenso zur Sprache kam das zurückhaltende Verhältnis der einheimischen Landbevölkerung gegenüber den strukturellen Veränderungen . Die Landgemeinden an der östlichen Ostseeküste standen unter dem Druck der im Zuge der Christianisierung aktiven Orden. Diese führten eine neue räumliche Ordnung ein und errichteten die Grundherrschaft als neue Besitz- und Wirtschaftsform . Die starke Abhängigkeit von kirchlichen Mechanismen war sowohl im „alten“ als auch im „jüngeren“ Europa mit unterschiedlichen kulturellen Modellen gleich. Gravierende Unterschiede tauchen jedoch bei der Analyse der Suppliken an die Pönitentiare aus „beiden Europas“ auf. Während sich die Suppliken aus den westlichen Ländern eher auf Eheangelegenheiten beschränkten, dienten die Bittschriften aus dem polnisch-litauischen Staat zur vielfachen Einholung einer elementaren kulturellen Orientierung.

Durch die Einbindung des wahrnehmungsgeschichtlichen Horizonts wurde der Bedarf einer dynamischen Auffassung des „jüngeren Europas“ bestätigt. Homogene Europa-Bilder wie jenes des Papstes Pius II. zielten allein auf die Abwendung der türkischen Gefahr nach dem Fall Konstantinopels von 1453. Deutlich differenzierter sind hingegen die Schilderungen des Missionars Johannes von Plano Carpini, der im Jahre 1245 vom Papst von Lyon zum mongolischen Großkhan entsandt wurde. Die bereisten Gebiete stuft er dabei in drei Zonen ab – je nach der wahrgenommenen Andershaftigkeit der kulturellen Praxen, etwa in der Religion, der Gastfreundschaft, dem Gefährdungspotenzial oder in Kommunikationsproblemen. Ähnlich verhält es sich mit den Aufzeichnungen des Danziger Kaufmanns Martin Gruneweg, der aufgrund der Vergleiche der von ihm besuchten Städte (z. B. Danzig, Venedig, Adrianopel) nicht nur die Ungleichheiten zwischen dem „alten“ und dem „jüngeren Europa“ im 16. Jahrhundert offen zu Tage treten ließ, sondern auch auf das Stadt-Land-Gefälle verweist.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass auf der Konferenz eine vergleichende Darstellung der Interaktionen der Länder Ostmitteleuropas thematisiert und eine Vielfalt von Herangehensweisen erarbeitet wurden, welche Ungleichheiten in dieser Region kontextualisierten. Spannende Diskussionen zeigten zudem die Notwendigkeit von weiteren interdisziplinären Studien, die die Geschichtswissenschaft mit soziologischen, anthropologischen, archäologischen und numismatischen Perspektiven verbinden. Zweifelsohne werden die Entwicklungsunterschiede innerhalb des „jüngeren Europas“ zu den relevanten Forschungsthemen der kommenden Jahre gehören.

 

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