Die vier Wellen des „Revisionismus“

Unter Bezugnahme auf Paul Ricoeurs Theorie der „dreifachen Mimesis“ untersuchte James Krapfl in seinem Vortrag am 15. Dezember 2021 die vier Wellen des „Revisionismus“ in der tschechischen Geschichtsschreibung seit 1989. Jede dieser Wellen habe eine neue Antwort auf die Frage gegeben, wie die kommunistische Erfahrung zu charakterisieren ist. In ihrem gesellschaftlichen Kontext hätten sie notwendigerweise die Grenzen zwischen Geschichte, Fiktion und Mythos ausgetestet. Gleichzeitig seien sie einem vorhersehbaren Verlauf in der Bewusstseinsgeschichte gefolgt, von dem aus die weitere Entwicklung vorsichtig prognostiziert werden könne. 

Zu diesen Erkenntnissen gelangte der Professor für Geschichte an den Universitäten in Prag und Montreal in seinem Vortrag "Mimetic Revisionism: Czech Historiography of Communism since 1989" in der gemeinsamen Arbeitsstelle des DHI Warschau und des Collegium Carolinum. Organisiert wurde die englischsprachige Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Philosophie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.  

Die Basis seines Vortrages bildete die Theorie der „dreifachen Mimesis“ des französischen Philosophen Paul Ricoeur. Diese Mimesis spiele sich im Diskurs zwischen der Gesellschaft und den Geschichtswissenschaftlern ab, wie der Historiker erklärte. Bei Mimesis 1 handele es sich um das Vorwissen bzw. die Voreinstellung, mit der sich ein Historiker historischen Belegen nähere. In Mimesis 2 erschaffe der Forschende ein Narrativ aus den gefundenen Belegen. Geschehnisse würden anschließend ausgewählt und miteinander verknüpft. Auf diese Weise entstünde aus der komplexen Realität ein lineares Narrativ, welches dann von anderen rezipiert werden könne (Mimesis 3). 

Erschaffen Historikerinnen und Historiker neue Narrative, ändere das die Voraussetzungen für zukünftige Wissenschaftler. Dies sei unter dem Begriff „Neukonfiguration“ zusammenzufassen, so Krapfl. Da diese Neukonfiguration das zukünftige Vorwissen (Mimesis 1) beeinflusse, verlaufe die „dreifache Mimesis“ zyklisch. 

Auf Ricoeurs Theorie aufbauend beschrieb Krapfl die vier Wellen des Revisionismus seit 1989 und erläuterte, dass jede dieser Wellen einen vollständigen Kreislauf der dreifachen Mimesis darstelle.

In Tschechien seien Studierende und ihre Unterstützer die formende Kraft der ersten Welle gewesen. Diese hätten in den Tagen zwischen dem 17. November und dem Generalstreik eine Neuinterpretation der Geschehnisse von 1968 verlangt. Dokumente, die zwanzig Jahre lang nicht zugänglich  gewesen waren, seien schließlich an die Öffentlichkeit gelangt und dies sei als Sieg der Wahrheit über die Lüge gefeiert worden. Hier sei ein historiographisches Narrativ entstanden, dessen Protagonist das Volk war, erklärte Krapfl. 

Die Jahre 1968 und 1989 seien wichtige Teile dieses Narratives gewesen, gemeinsam mit der Ersten Republik und dem „Nationalen Erwachen“. Kritik hätte sich zunächst hauptsächlich gegen die vergangenen 20 Jahre der Normalisierung gerichtet. In der zweiten revisionistischen Welle sei hingegen die gesamte Zeit des Kommunismus kritisiert worden; begonnen habe sie mit Václav Havels Rede auf dem Wenzelsplatz am Tag nach dem Generalstreik. Die Frage, ob der Sozialismus ein Fehler gewesen sei, sei mehr und mehr in den Mittelpunkt gerückt. Außerdem hätten herausragende Individuen wie Havel, Baťa und Masaryk im Vordergrund gestanden. 

Die dritte revisionistische Welle habe schließlich im Frühling 1990 begonnen. Wie der Vortragende erläuterte, sei sie eng mit der Entwicklung des Anti-Kommunismus zu einer politischen Kraft verknüpft gewesen. Im Fokus der Forschungen habe nun die kommunistische „Verdorbenheit“ gestanden. Man habe sich bemüht, den Opfern eine Stimme zu geben. Auch zwischenmenschliche Beziehungen seien untersucht worden, wobei häufig eine Seite als Opfer bzw. Held und die andere als Verbrecher dargestellt worden sei. 

Mit Beginn der vierten Welle des Revisionismus (ungefähr am 10. Jahrestag der Revolution) habe sich die Aufmerksamkeit dann auf die soziale und kulturelle Geschichte des Kommunismus verlagert. Hier sei — abgesehen von Unterdrückung — die gesamte Bandbreite der menschlichen Erfahrungen im Kommunismus sichtbar gemacht worden.

Laut Krapfl kann jede dieser vier Wellen des Revisionismus als eigenes Paradigma betrachtet werden. Paradigmen versteht er als Meta-Narrative, die beeinflussen, welche historischen Fragen mit welchen Methoden untersucht werden. Paradigmenwechsel (also Revisionen) seien folglich dort zu finden, wo die Aufmerksamkeit auf Aspekte gelenkt wird, die das aktuelle Modell nicht erklären kann. Die Aufmerksamkeit der Forschenden wende sich dann Quellen zu, die vorher nicht beachtet wurden. So verschöben sich Thema und Art der Forschung. 

Jedem Paradigma, so der Historiker, könne zudem eine eigene Trope, ein bestimmtes sprachliches Stilmittel, zugeordnet werden. Hier sei eine natürliche Abfolge der Tropen von der Metapher bis hin zur Ironie zu beobachten, der die tschechische Geschichtsschreibung seit 1989 folgte. Die Auswahl von Forschungsthemen sei eine Reaktion auf die jeweiligen Bedürfnisse einer Gesellschaft sowie den dadurch entstehenden Erklärungsbedarf. Im öffentlichen Raum stünden zudem meist zwei Paradigmen miteinander in Konkurrenz, merkte Krapfl an. Im aktuellen tschechischen öffentlichen Diskurs werde die vierte Welle als einzige Revision gesehen. Hier fehle das Bewusstsein für die Abfolge der Revisionen, so der Historiker. Er halte es für möglich, dass eine ironische Betrachtung nach dem Vorbild der vierten Welle als unangenehm wirken könnte, da sie weniger eindeutig erscheine als die vorausgehenden Betrachtungsweisen. Das mache sie jedoch nicht weniger wahr, betonte er. Die Abfolge der Tropen von Metapher bis Ironie verlaufe zyklisch, zurückgesetzt werde sie durch Gewalterfahrungen. Dies habe sich 1989 beobachten lassen, aber auch am Ende des Zweiten Weltkriegs, weshalb die Etablierung des Kommunismus als Gesellschaftssystem überhaupt erst möglich geworden sei.

04
Apr
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