Ein Workshop kontextualisiert das Massaker von Sonnenburg

Im Rahmen des Workshops „Evakuation / Rückzug / Liquidierung. Praktiken der Verschiebung und Auflösung von Staaten im 20. Jahrhundert“ erschlossen Wissenschaftler/innen aus Deutschland und Polen die Topographie sogenannter Endphaseverbrechen im NS-Gau Mark Brandenburg. Dabei handelt es sich um Gewalttaten, die von Angehörigen der deutschen Sicherheitspolizei und der SS in Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Stellen in den letzten Monaten und Wochen des Zweiten Weltkrieges in Europa auf dem 1945 noch verbliebenen Territorium des Deutschen Reichs begangen wurden. Die Veranstaltung (30.-31.01.2020) wurde gemeinsam vom DHI Warschau, der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina und dem Museum Viadrina in Zusammenarbeit mit dem Museum Sonnenburg in Słońsk, dem Institut für Angewandte Geschichte und dem Institut für Nationales Gedenken organisiert.

Am ersten Workshoptag in der Gedenkstätte für die Opfer von Gewaltherrschaft in Frankfurt (Oder) kontextualisierten die Teilnehmer/innen diese Verbrechen etwa in einer längeren „Kulturgeschichte der Rückzüge“, wie der Freiburger Historiker Christian Stein formulierte. Bereits seit Ende 1941 war die Wehrmacht immer wieder mit der Notwendigkeit konfrontiert, kontrolliert und unkontrolliert einen Rückzug von Frontstellungen vorzunehmen. Daraus ergaben sich drei weitere Jahre lang Handlungsspielräume, in denen Befehlshaber von Wehrmacht, Zivilverwaltung und Polizeistellen entscheiden mussten, ob und wie sie Gebiete zu evakuieren hatten. Im Fokus des Workshops stand der Umgang mit Zivilist/innen, aber auch mit landwirtschaftlichen Ressourcen, Unterlagen und anderen als strategisch wichtig geltenden Materialien. Als staatliche Infrastrukturen der Einsperrung wurden Gefängnisse und Zwangslager in Momenten des Rückzugs zu neuralgischen Punkten. Durch die starke Verknappung von Zeit und Raum im Zuge des Vordringens des Feindes, kam es gerade in Gefängnissen immer wieder zu Massakern. Das bis 1945 im Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) gelegene Sonnenburg (heutiges Słońsk) steht dabei für ein solches Verbrechen. In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 und damit nur zwei Tage vor dem Einrücken der Roten Armee wurden hier 819 Gefangene ermordet.

Am zweiten Workshoptag begaben sich die Teilnehmenden zur Spurensuche auf das Gelände des ehemaligen Arbeitserziehungslagers „Oderblick“ im heutigen Świecko (ehem. Schwetig), wo noch bis Ende Januar 1945 ein wichtiger Punkt des Netzwerks von Zwangsarbeiterlagern in Brandenburg lag. Matthias Diefenbach vom Institut für Angewandte Geschichte präsentierte vor Ort, welche materiellen Schichten dort noch heute zu finden sind. Adam Kaczmarek vom Institut für Nationales Gedenken (IPN) in Poznań erklärte auf dem ehemaligen Dorffriedhof von Schwetig, wie die Suchstelle des IPN über archäologische Ausgrabungen von Gebeinen nach im Lager Ermordeten sucht. Dabei werden unter anderem Unterlagen aus dem Krematorium in Frankfurt (Oder) mit gefundenen Urnenmarken sowie DNA-Proben aus noch erhaltenen Sklelettteilen mit dem genetischen Material von Nachfahren abgeglichen. In der Gemeinde Słońsk fand am 31. Januar 2019, von polnischer Seite organisiert, ein offizieller Gedenkappell für die Opfer des Gefängnismassakers vor 75 Jahren statt, an dem von deutscher Seite neben dem Generalkonsul in Breslau, auch Vertreter des Potsdamer Finanzministeriums sowie eine Abordnung der Europa-Universität Viadrina teilnahmen. Das hat eine besondere Bedeutung, denn die meisten Einrichtungen, die im östlichen Brandenburg für die Umsetzung nationalsozialistischer Verfolgung verantwortlich waren, befanden sich im damaligen Sitz des Regierungsbezirks in der Großen Scharrnstraße 59 – dem heutigen Hauptgebäude der Europa-Universität Viadrina.

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