Kontaminierte Landschaften

Am 20. November 2019 fand in Prag die Vorstellung des Sammelbandes „Kontaminierte Landschaften: Mitteleuropa inmitten von Krieg und Totalitarismus“ statt. Im von der gemeinsamen Arbeitsstelle des DHIW, des Collegium Carolinum München und des Instituts für Slawistik der Tschechischen Akademie der Wissenschaften organisierten Round-Table-Gespräch diskutierten Helena Ulbrechtová, Sławomir Piontek, Alexander Kratochvil und Václav Maidl über das Werk des österreichischen Schriftstellers, Übersetzers und Journalisten Martin Pollack. Die Moderation der Debatte übernahm Annika Wienert.

Helena Ulbrechtová (Institut für Slawistik der Tschechischen Akademie der Wissenschaften) eröffnete mit einer Vorstellung des Forschungsprojekts, das der Veröffentlichung des Sammelbands „Kontaminierte Landschaften“ vorausging. An diesem Projekt waren tschechische, deutsche, ungarische und österreichische Slawisten, Germanisten und Historiker beteiligt, die sich mit der breiteren mitteleuropäischen Perspektive auf das Thema auseinandersetzten. Dabei verband die Forschung literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen mit historischen und politischen Aspekten. Die Publikation beinhaltet daher nicht ausschließlich objektbezogene Studien, sondern auch meta-theoretische Texte und Beiträge mit Bezug auf die gegenwärtige politische Lage Mitteleuropas.

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ach den Einführungsworten von Helena Ulbrechtová widmeten sich die Diskutierenden einzelnen Fassetten des Werks von Martin Pollack aus literaturtheoretischen, literaturhistorischen und literaturkritischen Blickwinkeln. Sławomir Piontek, Leiter des Lehrstuhls für österreichische Literatur und Kultur an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, hob hervor, dass der Roman als neue Art der klassischen österreichischen Anti-Heimatliteratur gelesen werden könne. Außerdem wies er darauf hin, dass in seinem Werk eine strukturelle Ambivalenz sichtbar werde: Pollack beschreibe hier die schwierige Lebenssituation von Töchtern und Söhnen, deren Väter im politischen und gewalttätigen Dienst des Nationalsozialismus und Kommunismus standen. Auch Pollacks Vater selbst sei u.a. stellvertretender Leiter der Gestapo in Münster und somit in die Deportation der Juden aus Deutschland involviert gewesen.

Alexander Kratochvil referierte über konzeptionelle Grundlagen der Erinnerungskultur und des kulturellen Gedächtnisses. Neben französischen und deutschen Klassikern zum Thema Erinnerungsorte (Pierre Nora, Aleida Assmann etc.) stellte Kratochvil auch die Konzeption des tschechischen Historikers Miroslav Hroch vor. In den 1970er Jahren bearbeitete Hroch anhand der europäischen historischen Romane ein Konzept des sog. „historischen Bewusstseins“. In Anlehnung an die Arbeit des ungarischen revisionistischen Philosophen György Lukacs differenzierte Hroch das Konzept und unterschied eine begriffliche Hierarchie zwischen historischem Bewusstsein, Wissen und Unbewusstsein. Weiterhin sprach Kratochvil über den metaphorischen Wandel von „Bloodlands“ zu blutgetränkter Erde. Im Gegensatz zu Timothy Snyder, der historische Landschaften unter der diktatorischen Herrschaft analysierte, betonte Kratochvil die Wirkungsmacht der erinnerungskulturellen Landkarten, die durch die Wahrnehmungsmatrix literarischer Figuren und Romanautoren zu „kontaminierten Landschaften“ werden könnten.

Im letzten Diskussionsbeitrag legte Václav Maidl die Aufmerksamkeit auf den letzten Roman Pollacks. So verglich er „Die Frau ohne Grab“ mit dessen früheren Werken wie „Dem Tote im Bunker“. Auch in diesem Roman arbeite Pollack mit seiner eigenen Familiengeschichte, die in einen allgemeineren historischen Rahmen eingebettet werde. Im Roman erzähle Pollack die Geschichte seiner Tante, die am Ende des zweiten Krieges in einer slowenischen Kleinstadt von Partisanen verhaftet wird. Diese verstarb später in einem Lager, ihr Grab wurde nicht gefunden. Maidl beobachtet in beiden Fällen ähnliche thematische Motive, stilistische Mittel und dieselbe Metaphorik.

Die Metaphorik Pollacks wurde auch zum Gegenstand der lebendigen Diskussionen am Schluss der Veranstaltung. Dabei wurde betont, dass die Verflechtung von Wissensbegriffen und Metaphern ein starkes heuristisches Potential für die weitere literatur-, geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschung biete. Durch die Diskutierenden und Gäste ergab sich fruchtbarer fächer- und länderübergreifender Meinungsaustausch. Hervorzuheben ist dabei auch die Anwesenheit von Alexander Höllwerth, welcher das Forschungsprojekt angeregt hatte.

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