Neue Ansätze zur Geschichte der Suvalkija

Geschichte der Suvalkija (auch litauisch: Sūduva oder Užnemunė, polnisch: Suwalszczyzna), eine der ethnographischen Regionen Litauens und Polens, hat in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit in der historischen und kulturhistorischen Forschung erfahren. Gründe dafür sind u. a., dass die historische Region 1920 zwischen Litauen und Polen aufgeteilt wurde und zahlreiche Dokumente teilweise in litauischen, teilweise in polnischen Archiven, bzw. auch in Minsk lagern. Ruth Leiserowitz (Warschau) und Gintarė Malinauskaitė (Vilnius) stellten sich nun der Herausforderung, eine Veranstaltung zu konzipieren, mittels derer sich der Status quo der Erforschung der Geschichte der Suvalkija im 18. und 19. Jahrhundert beschreiben lässt, und der es gestattet, weitere Forschungsdefizite in diesem Rahmen zu definieren. Zugleich bot sich damit ein guter Anlass, die Arbeit der DHIW-Filiale in Vilnius vorzustellen. Als Partner wurde das Museum der Region Marijampolė und des Präsidenten Kazys Grinius gewonnen, wo der hybride Workshop unter dem Titel „Neue Ansätze zur Geschichte der Suvalkija“ stattfand. Historiker und Lokalforscher aus Litauen, Polen, Deutschland, Österreich und Israel stellten ihre laufenden Forschungsprojekte vor.

Nach einer Begrüßung des Gastgebers, des Marijampoler Museumsdirektors Antanas Pileckas, präsentierte Gintarė Malinauskaitė das Profil der Außenstelle. Ruth Leiserowitz warf in ihrer Keynote die Frage auf, ob diese Region im 19. Jahrhundert wirklich etwas Besonderes gewesen sei und lieferte einen Erklärungsversuch am Beispiel der Alltagsgeschichte. Zum einen unterstrich sie den häufigen Herrschaftswechsel um die Wende zum 19. Jahrhundert. Zum anderen verwies sie auf die ausgesprochene Vielvölkerschaft in der Region und betonte, dass es in letzter Zeit zwar Aufmerksamkeit für die Geschichte einiger Ethnien gegeben habe, diese aber stets einzeln oder nebeneinander betrachtet worden seien. Die Alltagsgeschichte, erklärte sie, biete die Möglichkeit z. B. eine Kleinstadt von innen zu analysieren, sie als überethnischen sozioökonomischen Organismus zu begreifen und neue Einsichten des Zusammenlebens zu gewinnen. In einem anderen Sinn ließe sich dieses Vorhaben auch als ein Kapitel „entlegener Geschichte“ (im Sinne Hans Medicks) verstehen. Diese These führte sie nachfolgend am Beispiel des Grenzstädtchens Vištytis aus. Im darauffolgenden Panel, das unterschiedliche Forschungsperspektiven bündelte, referierte zuerst der Archivar und Historiker Rimvydas Urbonavičius (Marijampolė) über Ursprünge der Stadtgeschichte von Marijampolė. Sein Fokus lag auf der Pfarrei und Ältestenschaft von Prienai, die sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf einem schmalen Streifen erstreckte, der durch die Flüsse Memel und Šešupė eingeschlossen war. Dort befindet sich heute Marijampolė. In seinem Vortrag präsentierte er historische Ereignisse, Momente der regionalen Verwaltungsgeschichte sowie der interkonfessionellen Beziehungen.

Anhand der erhaltenen Kirchenbücher aus der alten Kirche von Prienai konnte er im Kontext der Angaben über Taufen und Eheschließungen zahlreiche Informationen über die Bewohner der Pfarrei ermitteln. Seine Darstellung endete mit dem Ende der über einhundertjährigen Herrschaft der Butlers, in deren Folge erst die Stadt Marijampolė (1792) entstand. Der Lokalhistoriker Alvydas Totoris (Kalvarija) stellte die nationalen Minderheiten in der Region Kalvarija im 19. Jahrhundert vor. Er zeigte auf, dass Juden, Deutsche, Polen, Russen und Tataren zu den zahlreichsten Ethnien dieser Region gehörten. Er nannte die wichtigsten sozialen, wirtschaftlichen und konfessionellen Aspekte der regionalen Minderheitsgeschichte und verdeutlichte abschließend, dass die ehemaligen nationalen Minderheiten aus verschiedenen Gründen allmählich aus Kalvarija und Umgebung verschwunden seien. Daten der Volkszählung von 2011 zufolge lebten auf dem Gebiet der Gemeinde Kalvarija nur 30 Vertreterinnen und Vertreter nationaler Minderheiten. Die Mehrheit von ihnen seien Polen und Russen. Tomasz Naruszewicz (Bakałarzewo), der herausragende Spezialist für die Geschichte des 18. Jahrhunderts dieser Region, führte das Publikum in Funktionsweisen multikultureller Städte des 18. Jahrhunderts ein. Dazu hatte er die Beispiele von Przerośl, Wiżajny, Kalwaria, Wiłkowyszki und Ludwinów gewählt, in denen damals Katholiken, Juden, Protestanten und manchmal auch Muslime (Tataren) lebten. Ihm zufolge habe die Bevölkerung damals in angemessenen Beziehungen miteinander gelebt. Über Fälle schwerer religiös-nationaler Konflikte würden sich die Quellen ausschweigen. Es scheine so als seien diese erst in späterer Zeit aufgetreten als die Teilungsmächte aktiv wurden.

„Religion und konfessionelle Beziehungen“ lautete die Überschrift des zweiten Panels, in dem zuerst Melchior Jakubowski (Warschau) über konfessionelle Beziehungen in der Region Suwałki an der Wende zum 18. Jahrhundert referierte und in diesem Zusammenhang eine Fallstudie der Gemeinde Jeleniewo präsentierte. Mit deren Hilfe zeigte er auf, dass die konfessionellen Grenzen jahrhundertelang nicht so streng verlaufen seien, wie es sich Kirche und Beamte wünschten und stark vereinfachte Narrative behaupteten. Der Besuch des Gottesdienstes einer anderen Konfession, die Heirat mit Andersdenkenden oder die Bitte um eine Patenschaft wären wie auch in anderen Gegenden Europas in dieser multikonfessionellen Region normal und üblich gewesen. Man könne hier von einem Pragmatismus im Alltag sprechen. Die Familienforscher Doris Kaufhold (Pfaffschwende) und Manfred Auch (Wien) gaben anschließend einen Einblick in ihre Forschungen zu preußischen Siedlern, die ab Ende des 18. Jahrhunderts in der Suvalkija angesiedelt wurden. Sie demonstrierten ihre Untersuchungsergebnisse aus der Durchsicht der evangelischen Kirchenbücher der Gemeinde Wiżajny der Jahre 1844 bis 1914. Dabei wurde besonders Wert auf die Analyse von Familiennamen gelegt. Insgesamt, so Kaufhold, habe man 630 verschiedene Familiennamen unter den Protestanten der Gemeinde feststellen können. Es ließen sich stabile Kontingente mit Namen deutscher und ostpreußischer Herkunft ausmachen, daneben gebe es Anteile mit polnischen und litauischen Familiennamen. In der darauffolgenden Diskussion wurde mehrfach nachgefragt, was sich aus einer derartigen Analyse wirklich ableiten lasse.

Das Spektrum wurde durch eine Präsentation von Ralph Salinger (Kfar Ruppin) vervollständigt. Er sprach über jüdisches Alltagsleben in der Suvalkija. Salinger, der als jüdischer Familienforscher seit Jahrzehnten zu Vilkaviškis arbeitet und beachtliche Beiträge zur Erinnerungsarbeit vor Ort geleistet hat, vermochte es in seinem Vortrag zahlreiche Tatsachen sehr plastisch zu illustrieren, die bereits in den Referaten am Vormittag angeklungen waren. Gleichfalls verwies er jedoch auch darauf, welch große Lücken durch die Aktenverluste aufgrund von Shoah und Weltkrieg doch bestünden. Gerade die letzten beiden Beiträge verdeutlichten, dass ein Zusammenspiel zwischen Historikern und Familienforschern außerordentlich fruchtbar sein kann, da sich im Dialog und der Zusammenschau unterschiedlicher Untersuchungen auch Schärfungen bzw. Erweiterungen von Perspektiven ergeben.

Der eintägige Workshop am 22. Juni 2021 war außerordentlich gut besucht. Das aufmerksame Publikum folgte sehr konzentriert den vielen unterschiedlichen Themen und diskutierte angeregt. Dabei erweckten Fragen von interethnischen und interkonfessionellen Beziehungen besonderes Interesse. Ein Kurzbericht über die Veranstaltung fand Eingang in die Abendnachrichten des lokalen Fernsehsenders und auch die Regionalpresse widmete der Berichterstattung eine ganze Seite. Das gemeinsame Gespräch über die Geschichte der Region wird garantiert Fortsetzung finden.

22
Apr
Tagung
Workshop „Infrastructures of Memory. Actants of Globalisation and their Impact on German and Polish Memory Culture”
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