Tendenzen der Moderne im späten Russischen Kaiserreich

Forscherinnen und Forscher aus Litauen, Lettland, Russland, Israel, Japan, Polen, Italien, Großbritannien und Deutschland trafen sich auf Einladung des Litauischen Historischen Instituts und der Außenstelle Vilnius des Deutschen Historischen Instituts Warschau am 20. und 21. Juni 2019 in Vilnius. „Making the Empire Great Again: Challenges in Modernising the Russian Empire“ lautete die Überschrift der Konferenz, zu der die Gastgeber eingeladen hatten, um innere und äußere Konflikte und Herausforderungen in der Gesellschaft und Politik im Russischen Kaiserreich zur Wende des 19. und 20. Jahrhunderts zu diskutieren.

Die einzelnen Beiträge befassten sich aus sehr unterschiedlicher Perspektive u. a. mit neuen, modernen Konzepten des Nationalismus, die in kleineren ethnischen Gruppen in den Provinzen und in Russland entstanden, sowie mit in der Umbruchsphase der Moderne aufkommenden politischen, kulturellen und religiösen Tendenzen und Reformen. Malte Rolf (Oldenburg) sprach über „einen Prozess der Emanzipation“ der russischen Diasporen in den polnischen Provinzen gegenüber der Dominanz veralteter imperialistisch-bürokratischer Strukturen, wodurch sich eine „Provinzialisierung des politischen Zentrums“ feststellen lasse. Einen weiteren Beitrag zur Stärkung des Nationalismus in den Peripherien des Russischen Imperiums leistete Philipp Schedl (Bamberg), in dem er den Fokus auf die Strategien und Methoden der nationalistischen Bewegungen in den Provinzen legte.

Ein zweites Panel befasste sich mit Demokratisierungsprozessen im Russischen Imperium. Alexander Semyonov (St. Petersburg) referierte zu liberalen Tendenzen in der Politik und Gesellschaft, die sich als globales Phänomen einer „Massen-Politik“ für eine Massengesellschaft nicht nur in Russland zeigten und das zaristische politische System beeinflussten. Auch im Bildungssystem etablierten sich liberale Konzepte, wie Yoko Aoshima (Kobe) am Beispiel eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründeten Elternkomitees im Bildungssektor in den nordwestlichen und baltischen Ländern veranschaulichte, das eine vermittelnde Funktion zwischen Staat und Gesellschaft übernahm.

Über Krisen und neue Wege und damit zusammenhängende Transformationen des Bildes der imperialistischen Herrschaft in der öffentlichen Wahrnehmung sprachen Jolita Mulevičiūtė und Darius Staliūnas (Vilnius). Mulevičiūtė ging näher auf die besondere Bedeutung imperialistischer Symbolik, das heißt über ihre bloße Funktion als Attribute staatlicher Institutionen hinaus, und auf den Antagonismus, der sich zwischen Ideal und Wirklichkeit zeigte, ein. Die überpräsente visuelle Inszenierung des Monarchen im alltäglichen Leben (sei es auf Schulbüchern, Zigarettenetuis, in öffentlichen Gebäuden oder in den modernen Medien, wie den Kinos) rief im Gegenteil eine antizaristische Haltung unter Teilen der Bevölkerung hervor. Staliūnas referierte über die Klassifikation nationaler Gruppen in den sogenannten westlichen Regionen, die „Litauischen Regionen“, welche Wilna, Kovno und Grodno umfassten, durch die Staatsbürokratie nach den Aufständen von 1905. Die russische Monarchie betrachtete diese Gebiete als „russisches Territorium“, das von „fremden“ und „feindlichen“ nationalen Ethnien wie Polen und Juden und auch durch die katholische Kirche dominiert würde – sowohl in kultureller als auch wirtschaftlicher Hinsicht. Staliūnas ging dabei insbesondere auf die veränderten Kriterien ein, welche die neue nationale Klassifikation bestimmten.

Einblicke in Veränderungen in der religiösen Landschaft in der Nordwestregion des Russischen Reiches gaben Vilma Žaltauskaitė (Vilnius), die über Spannungen zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche sprach, und Vladimir Levin (Jerusalem). Sein Beitrag beleuchtete die neue Aufmerksamkeit, die der jüdischen Gemeinde unter der Regentschaft Nikolajs I. nach einer langen Phase antisemitischer Politik zuteilwurde und umgekehrt die wachsende Loyalität der Juden gegenüber dem Zaren. Weitere Beiträge nahmen Entwicklungen im Kino und in der Arbeitsmigration in diesen Gebieten zurzeit der Umbrüche der Jahrhundertwende unter die Lupe (Juozapas Paškauskas, Vilnius und Ruth Leiserowitz, Warschau).

Ein abschließendes Panel ging verstärkt der kartografischen Verordnung von Minderheitsethnien wie der deutschbaltischen und lettischen Bevölkerung im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung der Frage nach ihrer national-territorialen und sozialen Verortung nach. Hierzu referierten Ivar Ijabs (Riga), Catherine Gibson (Florenz) und Grzegorz Krzywiec (Warschau), der das Schlusswort hatte.

Die einzelnen Beiträge spiegelten die zahlreichen Prozesse und Transformationen wider, die das Zarenreich in den Vorrevolutionsjahren durchlebte. Sie verdeutlichten auch den multinationalen und multiethnischen Charakter des Russischen Imperiums und die damit verbundene Heterogenität auf nationaler, kultureller und religiöser Ebene. Die lebhaften Diskussionen unter den Referenten und Gästen bewiesen schlussendlich das große Interesse an den facettenreichen Aspekten des Konferenzthemas.

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