Utopische Zeit 1989

Wie lehren wir über den Fall des Kommunismus und wie erinnern wir daran? Dieser Frage widmete sich die wissenschaftliche Konferenz „Czas utopii 1989“ (Utopische Zeit 1989), zu der sich vom 13. bis 17. November 2019 neben Forschenden verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen auch Lehrerinnen und Lehrer im DHI Warschau und im Europäischen Zentrum der Solidarność (ECS) Danzig trafen.

Eröffnet wurde die parallel zur thematisch verknüpften Filmreihe „Jahr des Umbruchs. 1989 im europäischen Kino“ stattfindende Konferenz von DHIW-Direktor Miloš Řezník im Warschauer Kino Luna. Nach zwei anschließenden Filmvorführungen begann das Tagungsprogramm am Donnerstag mit einem Ausstellungsbesuch im Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN.

Das erste Panel startete schließlich mit Antoni Dudek, der mit seinem Vortrag über die Ereignisse des Umbruchsjahrs 1989 und die Erinnerung daran die Keynote zu den anschließenden Diskussionen setzte. Er eröffnete mit dem Hinweis auf die gesellschaftlichen Unstimmigkeiten bezüglich der Gewichtung der weitreichenden Ursachen von 1989. Bei seiner Darstellung legte er den Schwerpunkt diesbezüglich auf die vor allem in Polen spürbaren Folgen des allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruches des Sozialismus und die Politik der Perestroika unter Michail Gorbatschow. Ebenso führte er jedoch für Polen selbst die unter Jaruzelski wirkende Deregulierung und in Folge Schwächung des politischen Systems und die Rolle der Opposition als Ursachen des Wandels 1989 ins Feld.

Im anschließenden Zeitzeugengespräch, geleitet vom Deutsche Welle Korrespondenten Jacek Lepiarz, stellten Kazimierz Wóycicki und Martin Sander ihre Sicht auf den polnischen und Martin Milan Šimečka die auf den tschechoslowakischen Umbruch ’89 dar. Wóycicki betonte in Anlehnung an die Keynote Dudeks das seines Erachtens deutlich zentralere Element der soziopsychologischen Zusammenhänge bezüglich der Vorgänge der Wende. Anschließend entspann sich zwischen den Zeitzeugen ein lebhaftes Gespräch, das um verschiedene Fragen zu dieser Zeit kreiste: die Art und Motive des damaligen Aktiv-Werdens, die Beurteilung der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Rückblick auf die damaligen Ereignisse und daran angeknüpfte Zukunftsprognosen.

Nach einer kurzen Ansprache von Ivan Jestřáb, dem tschechischen Botschafter in Warschau, ging es über zur zweiten Podiumsdiskussion des Tages, die in Zusammenarbeit mit dem Tschechischen Zentrum in Warschau, der Societas Jablonoviana Leipzig und dem Zentrum für Historische Forschung Berlin realisiert wurde. Teilnehmende waren zwei Leipziger, ein Warschauer und ein Prager Akademiker, die zur Frage „Was bleibt von 1989?“ Stellung nahmen. Moderiert wurde sie von Robert Żurek, Vorstandsmitglied der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung.

Laut Frank Hadler (GZWO Leipzig) scheint der Mauerfall als globale Ikone andere Aspekte der Erinnerung an ’89 zu überlagern, so die gesellschaftliche Wahrnehmung an das historisch einschneidende Ende des Kalten Krieges. Ebenso sei heute viel zu wenigen Menschen bewusst, dass es damals durchaus die Möglichkeit eines reformierten Sozialismus in der DDR gegeben hat, und zwar als Alternative zu einer schnellen Vereinigung Deutschlands. Daran schloss sich auch Hans-Christian Trepte (Universität Leipzig) an, der hinsichtlich der damaligen Frage einer eigenen demokratischen DDR von einer „vorschnellen Assimilation“ sprach. Oldřich Tůma (Tschechische Akademie der Wissenschaften Prag) wies darauf hin, dass in diesem Zusammenhang Synergien zwischen verschiedenen Ländern weniger erinnert würden als nationale Ereignisse. So habe aber der Untergang der DDR z.B. auch die Stimmung in der früheren Tschechoslowakei beeinflusst. Als weiteres Beispiel der gegenseitigen Bezüge nannte er den Schmuggel der verbotenen Literatur über Polen in die ČSSR. Mit Blick auf Polen bemerkte Andrzej Krawczyk vom polnischen Außenministerium, dass die Betrachtung der Umbruchphase nicht auf ein konkretes Erinnerungsdatum zu reduzieren sei. Die Frage sei vielmehr, an welches Schlüsselereignis (Runder Tisch, freie Wahlen, Regierung Mazowiecki) man sich erinnere.

Auf einen interaktiven Workshop für Lehrkräfte, der sich dem Jahr 1989 widmete, folgte am Freitag der Vortrag von Historikerin Anna Machcewicz. Ihre Einführungsvorlesung zur Rolle der Solidarność in Polen hatte die Frage zum Gegenstand, wie man der Öffentlichkeit – ausgehend von der polnischen Gewerkschaft – die Wende von ’89 näherbringen kann. In der anschließenden Diskussion wurde die Universalisierbarkeit der polnischen Vergangenheit problematisiert. Die Teilnehmenden merkten an, dass die Geschichte der Solidarność bis ’89 weder die globalen Auswirkungen noch die symbolische Strahlkraft der Perestroika oder des Mauerfalls gehabt hätte. Ebenso gäbe es in Polen kein einheitliches Narrativ zur Solidarność, was die populärwissenschaftliche Aufarbeitung erschwere. Machcewicz ergänzte diesen Punkt mit dem Zusatz, dass zum Streik 1980 zwar ein gemeinsamer gesellschaftlicher Konsens bestünde, aber die Personalie Wałęsa höchst umstritten sei. Zu verdanken sei dies u.a. der in Polen stark ausgeprägten Politisierung der Historie.

Fortgesetzt wurde die Konferenz an den darauffolgenden Tagen im Europäischen Zentrum der Solidarność in Danzig, wo neben Funktion, Rolle und Einfluss der Ausstellungen auch die allgemeine Lehre über Ereignisse und Auswirkungen des Jahres 1989 in Schulen, Museen und außerschulischen Bildungseinrichtungen im Fokus stand. Abschließend wurden die Auswirkungen des ECS auf das sozioökonomische Umfeld der pommerschen Region diskutiert.

01
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