„Wer wenn nicht wir“, DE 2011

Im Rahmen der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

124 Min., Regie: Andres Veiel
Ort: Kino Iluzjon
Der Film wird im deutschen Original mit polnischen Untertiteln gezeigt.

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

 

Zum Film:

Wer wenn nicht wir 

„Gudrun, ich brauch dich, ich schaff das nicht alleine“ schreibt der Schriftsteller Bernhard Vesper* Mitte der 1960er Jahre in einem Brief an seine Geliebte, die Germanistin Gudrun Ensslin. In seinem Spielfilmdebüt erzählt der gefeierte Dokumentarfilmer Andres Veiel von der Entstehung und Entwicklung der bundesrepublikanischen Protestbewegung, die sich unter anderem gegen die bürgerlich-kapitalistische Nachkriegsordnung in Deutschland richtete und auf deren Boden die linksradikale Terrororganisation RAF entstand. Die Handlung des Films umfasst eine Zeitspanne von 1949 bis 1971, doch konzentriert sich der Regisseur jedoch vor allem auf die Ereignisse der 1960er Jahre. Akribisch zeichnet Veiel den gesellschaftlich-politischen Kontext nach, in den Mittelpunkt rückt er jedoch die privaten Schicksale der an den damaligen Ereignissen beteiligten Personen, indem er die stürmische Beziehung zweier junger Intellektueller auf geradezu melodramatische Weise in Szene setzt. Der Filmemacher, der in den 1970er Jahren an einem Regieworkshop mit Krzysztof Kieślowski in Westberlin teilnahm, porträtiert seine Protagonisten sehr ambivalent: In seiner Version erscheinen Ensslin und Vesper anziehend und abstoßend zugleich. Das nationalsozialistische Erbe, dem sich die junge Generation der Deutschen gegenübergestellt sah, die von der Generation ihrer Eltern moralische Wiedergutmachung für die Verbrechen des NS-Regimes forderte, verleiht Veiels Figuren tragische Züge. Dies offenbart sich in den schonungslosen Worten der Mutter der Hauptfigur: „Ohne den Führer hätte es dich nicht gegeben.“ Sorgfältig inszeniert, mit Musik aus jener Zeit unterlegt und angereichert mit einem queeren Handlungsstrang, wurde „Wer wenn nicht wir“ auf der Berlinale 2011 mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet. (Text: Ewa Fiuk)

* Bernward Vesper war der Sohn des nationalsozialistischen Schriftstellers Will Vesper.

 

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

 

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