Wohlfahrtsinstitutionen in Ostmitteleuropa

Die bisherige Historiographie von Wohlfahrtstaatlichkeit fokussiert sich zu großen Teilen auf westeuropäische Geschichte. Während etwa die Bismarck’schen Sozialversicherungen gründlich bearbeitet wurden, zeichnet sich für den ostmitteleuropäischen Raum ein Bild mit wesentlich mehr Leerstellen. Um diese ein Stück weit zu schließen, fand am 21. Oktober 2022 in den Räumen der Prager Außenstelle des DHI Warschau der Workshop „Welfare Institutions in Central and Eastern Europe, 1890-1948“ statt. Organisiert wurde er von der Prager DHIW-Außenstelle in Kooperation mit dem Masaryk Institut und dem Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag.

Im einleitenden Impulsvortrag wies Zdeněk Nebřenský (Prag) auf die bisherigen Forschungslücken für Mittel- und Osteuropa hin und erklärte diese unter anderem mit der früheren marxistischen Einheitslesart. Die sich daraus ergebenden Forschungsdesiderate hätten von regionalen Vergleichsstudien über (Dis-)Kontinuitäten vor und nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu der Differenzierung von Wohlfahrtskapitalismus und Wohlfahrtsstaat gereicht. Für die wissenschaftliche Bearbeitung dessen forderte Nebřenský eine entsprechende Sorgfalt.

Diese bewies Beata Piecha-van Schagen (Chorzów) in ihrem Beitrag zu den Alltagswelten oberschlesischer Arbeiter um 1900 am Beispiel der „Colonie Gieschenwald“ in Kattowitz. Ausgehend von deren Wohn- und Lebensverhältnissen zeigte sie, wie die Arbeitersiedlungen als Katalysatoren der Sozialversorgung fungierten. Ob die Motivation dafür im Sinne des „welfare capitalism“ weniger in besonderer staatlicher Fürsorglichkeit als in der „Qualitätssicherung“ der Arbeitskraft zu suchen sei, stellte Piecha-van Schagen zur Diskussion.

Am Beispiel des Roten Wiens zeigte Mario Holzner (Wien), wie sich im Sozialwohnungsbau politische, kulturelle und architektonische Fragen verbinden. In Zusammenarbeit mit Michael Huberman (Montreal) untersuchte er über quantitative Zugänge, was den nachwirkenden Erfolg der damaligen Sozialpolitik begründet hat. Dabei verwies er auch auf die Bedeutung für heutige Herausforderungen der Wohnpolitik.

Teresa Willenborg (Wedemark) stellte am Beispiel der Kinderfürsorge in Polen vor, dass es ab 1890 eine Entwicklung von Philanthropie hin zur staatlichen Fürsorge gab. Neben den spezifischen Herausforderungen der damaligen Kinderfürsorge thematisierte sie auch Handlungsspielräume staatlicher und nichtstaatlicher Akteure.

Welche Rolle religiöse Organisationen in der Sozialversorgung gespielt haben, diskutierte Svitlana Luparenko (Kharkiv). Sie beleuchtete einerseits die finanziellen und ideellen Hürden, mit denen konfessionelle Institutionen konfrontiert waren und zeigte andererseits deren enormen Einfluss auf die Sozialfürsorge.

Inwieweit sich die Vorstellung von „welfare capitalism“ als Zwischenstufe auf dem Weg zur Wohlfahrtsstaatlichkeit auf Estland anwenden lässt, stellte Liisa Lail (Tartu) zur Diskussion. Entlang der mehrfachen institutionellen Umbrüche in der Zwischenkriegszeit erläuterte sie gleichermaßen Eigenheiten wie auch Parallelen im Vergleich zu anderen Regionalstudien.

Den Abschluss bildete der Beitrag von Dan-Alexandru Săvoaia (Iași) mit seiner Arbeit zur Arbeitslosenversorgung im rumänischen Iași um 1930. Dass diese neben gewerkschaftlichen Akteuren auch maßgeblich von Sozialhilfeausschüssen mitgestaltet wurde, betonte er als Forschungslücke in der bisherigen rumänischen Historiographie.

Insgesamt warf die Veranstaltung vielseitige Forschungsmöglichkeiten des Themas auf und bot eine gute Gelegenheit für Austausch und Vernetzung. Die Moderation übernahm Jakub Štofaník (Prag).

01
Feb
Ausstellung Podiumsdiskussion
Ausstellung: Bericht aus der belagerten Stadt Tschernihiw
Mehr lesen