Zur Geschichte der europäischen Integration

Symbol der europäischen Integration © wikimedia commons, Adrian Petty - CC BY-SA 3.0

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Krise(n). Seit den späten 2000er und 2010er Jahren erlebt der alte Kontinent eine ökonomische, politische und gesellschaftliche Überhitzung, die durch Finanzturbulenzen und Flüchtlingsströme ebenso wie durch den Brexit, zunehmend autokratische bzw. autoritäre Regierungsformen in Ungarn und Polen, und schließlich die Covid-19-Pandemie gekennzeichnet ist. Das Bedürfnis, diese Entwicklungen historisch einzuordnen und zu fragen, was die EU eigentlich „leistet“, erscheint allgegenwärtig. Folglich kommt ein Vortrag, der sich mit der Geschichte der europäischen Integration befasst, zur rechten Zeit.

Unter dem Titel „Von der Teilung zur Westintegration Europas 1945-1991. Die Marktlogik als Ausdruck politischer Zweckrationalität“ spannte Michael Gehler (Hildesheim) am 24. November 2020 einen breiten Bogen von den Ausgangsbedingungen der Nachkriegszeit und der Gründung der Montanunion, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Atomgemeinschaft (EURATOM) 1951-1957 über die Nord-, Süd- und Oterweiterungen bis zum Maastrichter Vertrag 1992. Seinen Forschungen zufolge hätten die Westalliierten zu Beginn eine Schlüsselrolle gespielt. Sie hätten es ermöglicht, 1949 einen westdeutschen Staat ins Leben zu rufen. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO 1955 und den Römischen Verträgen von 1957 seien dann (zunächst grundsätzlich deckungsgleich mit dem karolingischen Kern) die Fundamente für die Integration Westeuropas gelegt worden.

Warum aber waren Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien und die Benelux-Länder bereit, freiwillig auf Teile ihrer Souveränität zu verzichten? Kurzfristig hätten sie sich zum Ziel gesetzt, die Binnenzölle abzubauen, eine Zollunion zu schaffen sowie freien Warenverkehr zuzulassen, so Gehler. Die gemeinsame Landwirtschafts-, Verkehrs- und Wettbewerbspolitik habe wiederum die Angleichung innerstaatlicher Rechtsvorschriften bedingt. Auf längere Sicht hätten die Gründungsväter Wirtschaftswachstum, Lebensstandardsteigerung und eine immer engere institutionelle Fusionierung angestrebt. Im Verein mit der Koordinierung der Außenhandels-, Finanz- und Währungspolitik sei indes die Schaffung eines Binnenmarktes geplant gewesen, um den Produktivitätsrückstand Europas zu verringern. Auf diese Marktlogik sowie die deutsche Einigung führte der Hildesheimer Historiker die Prioritätensetzung nach 1989 zurück, die darin bestanden habe, eine stärkere Vertiefung Westeuropas der Verschiebung der EU-Osterweiterung vorzuziehen. Ob mit dieser Verzögerung „neue ökonomische Klüfte und politische Mauern“ (die womöglich autoritäre Tendenzen in Ostmitteleuropa erklären würden) entstanden, sei jedoch dahingestellt. Das Beispiel der rasch umgesetzten Vereinigung Deutschlands zeige jedenfalls, dass Aufholprozesse keineswegs allein durch massive Geldtransfers vollbracht werden können – insbesondere ohne intellektuelle und mentale Dispositionen einzelner Bevölkerungsgruppen oder die politischen Kulturen der jeweiligen Länder zu berücksichtigen.

Aus dem informativen Dienstagsvortrag ergaben sich interessante Fragen und spannende Diskussionen. Diese betrafen – in Ostmitteleuropa vermutlich nicht anders zu erwarten – ebenso historische Dimensionen der Rechtsstaatlichkeitsentwicklung und der Anwendung des Vetorechts wie den Prozess der EU-Konstitutionalisierung sowie die Reflexion über zukünftige Süd- und Ostgrenzen der Union.

04
Apr
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