Das alte und das neue Europa. Zu Grundfragen von Austauschprozessen zwischen den europäischen Großregionen in Mittelalter und Früher Neuzeit

Conference

Thu. 25.10.2001 | 12:00 -
Sun. 28.10.2001 | 18:00 o' clock
Warschau

In Europa bestehen große zivilisatorische Unterschiede. Historiker aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Litauen, den Niederlanden, Polen, Rußland, der Ukraine und Ungarn haben es unternommen, im Rahmen eines zweitägigen, von der VW-Stiftung unterstützten Colloquiums nach den historischen Ursachen zu fragen und sich über eine brauchbare Begrifflichkeit und Erklärungsmodelle zu verständigen. Den Forschungsgegenständen der veranstaltenden Institute, des DHI Warschau und des DHI Paris entsprechend, sollten West- und Osteuropa im Mittelpunkt stehen. Die Tagung gliederte sich in die vier Sektionen Historische Raumbegriffe, Kulturbegriff, Erklärungsmodell I: Kulturgefälle in Europa, Erklärungsmodell II: Modernisierung in Europa; je einem Referat und einem Korreferat schloß sich eine ausführliche Diskussion an. Das Kolloquium wurde an der Universität Warschau abgehalten und fand mit einer Exkursion zur Schloßanlage Wilanów am Warschauer Stadtrand seinen Abschluß. Konferenzsprachen waren Deutsch, Französisch und Polnisch.

Patrick Gautier-Dalché (Paris) bot in seinem Referat über die "Historischen Raumvorstellungen von Europa im Mittelalter" auf Karten und in geographischen Beschreibungen einen chronologischen Abriß vom Frühmittelalter bis ins 14. Jh. Der Europa-Begriff war im Westen durchweg konzeptuell und nicht als geographische Bezeichnung verwandt worden. Mit wachsender Erfahrung des Kontinents hat er sich diversifiziert und ist komplexer geworden. Im 12. Jh. ist eine Zweiteilung in Westen und Norden erkennbar. Der Osten wurde zumeist noch unter Germanien subsumiert, gewann aber seit dem 13. Jh. zusehends an Struktur. Hier waren Tataren, Heiden und Schismatiker beheimatet. Nord-, Osteuropa und der Balkan galten als kulturell rückständige Zwischenregionen zwischen West- und Ostkirche bzw. Christen und Türken. Zugehörigkeit wie Andersartigkeit dieser Regionen spiegeln sich in den mittelalterlichen geographischen Texten.

In ihrem Korreferat verwies Anna Wessely (Budapest) zunächst auf die Verschiebung der antiken Ostorientierung hin zu einem eurozentristischen Weltbild im Mittelalter. Sehr wohl habe ein Bewußtsein von der Einheit Europas bestanden, wenngleich die Außen- wie die Binnengrenzen Wandlungen unterlagen. Gegenüber den noch zu behandelnden linearen Erklärungsmodellen "Kulturgefälle" und "Modernisierung" präferierte Frau Wessely wegen ihrer Komplexität und Offenheit für alternative Entwicklungen die Konzeption der "Drei historischen Regionen Europas" (1981) des ungarischen Historikers Jenö Szücs. Die Anfänge Mitteleuropas als eines geschlossenen Teils des Ganzen, der sich schlußendlich zu Beginn der Frühen Neuzeit herauskristallisierte, reichten ins Hochmittelalter zurück und standen in Zusammenhang mit der Wachstumskrise des Feudalismus. Diese sei in West- wie in Osteuropa (Rußland) ganz verschieden gelöst worden, hätte in Mitteleuropa zu sozialen Umwälzungen geführt, welche verantwortlich waren für die folgende jahrhundertelange Stagnation.

In der Diskussion wurde einleitend vor der Übertragung bzw. Suche des modernen Europabegriffs in den mittelalterlichen Quellen gewarnt: Wiewohl im Referat die Entwicklung, die zunehmende Diversifikation des Europa-Namens gezeigt wurde, eigne sich die deskriptive Methode der historischen Geographie, die sich ausschließlich auf gelehrtes Schrifttum stützt, letztlich kaum, allgemeine Vorstellungen von Europa im Mittelalter zu erfassen, da es einen Diskurs, einen Europabegriff als elaboriertes Konstrukt nicht gegeben habe. Vielmehr handelte es sich um einen "Abrufbegriff", der je nach Gelegenheit mit unterschiedlichen Inhalten verwendet werden konnte. Nachdem kurz über das Werden Europas (Papstkirche, Bettelorden, Urbanisierung, Kreuzzüge) und seine inneren Grenzen (Limes, Sprachen, Religionen/Konfessionen) gehandelt wurde, rückten Aspekte europäischer Praxis ins Blickfeld (Kaufleute, Söldner, Preußenreisen, Mission, Staatsrecht/Verträge). Sie war im Mittelalter theoretischen Europavorstellungen voraus; nur gestreift wurde der Europa-Diskurs der Frühen Neuzeit. Mehrfach verwiesen wurde hingegen auf das Vorhandensein nichtchristlicher und nichtlateinischer Kulturkreise (Islam, Juden, Byzanz), in deren Überlieferung der Europa-Name kaum vorkommt; angemahnt wurde deren stärkere Berücksichtigung durch die (west-) europäische Historiographie.

Die zweite Tagungssektion fragte nach den Sphären, in denen sich kulturelle Entwicklungen abspielen und mit Hilfe welcher Kriterien sie sich messen lassen. Thomas Wünsch (Konstanz) wählte für sein Referat einen prinzipiellen Ansatz. Zunächst unterschied er ein statisches von einem dynamischen Kulturverständnis. Während jene Anschauung von einem Kulturgefälle ausgehe und also eine Bewertung von Kultur(en) vornähme, was letztlich zu deren Nationalisierung führe, versteht er "Kultur" als Veränderungsparameter. Unter Verweis auf die Reflexivität sprachlicher Gestaltung von Geschichte, die ein Zurücktreten des Ingenieurs (= Historikers) gegenüber den Dingen (copia rerum) notwendig mache, postulierte er einen Paradigmenwechsel der historischen Kulturwissenschaft: Sein Plädoyer galt "Tiefenstudien", die Mikro- und Makro-Ebene verbinden und dabei auf Bewertungen, Hierarchisierungen und Teleologien verzichten. Derart sollten sich Phänomene der Akkulturation und Modernisierung adäquat erforschen lassen, wodurch "Kultur" zu einem echten Gegenstand historischer Forschung werden könne.

Andrzej Wyczański (Warschau) präferierte in seinem Korreferat einen praktischen Ansatz zur Erklärung des Kulturbegriffs. Am Beispiel der Krakauer Universität im 16. Jh. demonstrierte er die Ambivalenz kultureller Erscheinungen wie ihrer Untersuchung: Die ältere polnische Forschung habe ein negatives Bild der alma mater gezeichnet. Das geistige Niveau der polnischen Eliten jedoch hätte damals europäisches Niveau besessen. Dies erkläre sich daraus, daß etliche Studenten keinen regulären Abschluß anstrebten, sondern sich allein zwecks Wissens-erwerb immatrikulierten. Folglich müßten die Historiker ihren Untersuchungsgegenstand entsprechend ausrichten: entweder die Universität als Institution, das Objekt, oder die dort tätigen Menschen, die Subjekte. Wähle man diesen Ansatz, könnten vielleicht - eine Frage an das Auditorium - die Werke, könnte die Kultur aus der Denkweise ihrer Schöpfer erklärt werden; womöglich sei dies ein Weg zu einer neuen Kulturgeschichte.

Die Diskussion wurde gleichfalls von sehr unterschiedlichen bis vagen Vorstellungen von "Kultur" bestimmt: Ist es all das, was Menschen in einer bestimmten sozialen Ordnung mit einem erkennbaren Zweck erschaffen, oder ist es das, was man im Laufes seines Lebens erlernt? Akzeptiert wurde Kultur als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, welcher deren spezialisierte Teilbereiche zusammenzuführen vermag. Als vielversprechend wurde der interdisziplinär geführte synchrone Vergleich bezeichnet, da hierdurch Kulturlandschaften (ggf. in Opposition zu Geschichtslandschaften) eruiert werden könnten. Dem wurde entgegengehalten, daß es nicht um die Erarbeitung von Rankings oder den Beweis eines Kulturgefälles gehe. Für Westeuropa entwickelte Modelle und Kriterien ließen sich nicht 1:1 auf Ostmitteleuropa übertragen, hier sei auf Grund anderer Rahmenbedingungen mit Sonderentwicklungen und Inselbildungen zu rechnen (Buchdruck v. Handschriftenkultur; Frühparlamentarismus in Polen; Metropolen im Reich v. Prag, Krakau). Angerissen wurden Fragen nach der europäischen Kultur, nach Kulturgrenzen und der Konfrontation resp. des Vergleichs von Kulturen (Fremdheit). Abschließend wurde die Notwendigkeit empirischer Studien - ohne Teleologie, mit der Möglichkeit also, ggf. Kulturgefälle zu konstituieren und Kulturlandschaften zu postulieren - betont: Komplexe Fragestellungen mit einer konkreten Fokussierung machten "Kulturgeschichte" auch vom Umfang her behandelbar.

Am zweiten Tag sollten zwei theoretische Modelle zur Erklärung der Kulturunterschiede in Europa behandelt werden. Zunächst präsentierte Henryk Samsonowicz (Warschau) seine Sicht zum "Kulturgefälle". Zu dessen Verständnis sinnvoll sei die nähere Betrachtung der Grundla-gen, der Zeit um 1000, als das "jüngere Europa" entstand. Für die Teilung des Kontinents in Westen und Osten - wobei weitere Zivilisationen bestanden, die nicht thematisiert werden sollten - seien fünf Faktoren maßgebend: der historische Faktor, der ökonomische Faktor, die Kommunikation zwischen den Menschen, die gesellschaftliche Organisation sowie Sitten und Gewohnheiten. In allen Belangen war der Osten weniger begünstigt und daher weniger entwickelt. 500 Jahre später war Ostmitteleuropa entstanden, Europa dreigeteilt. Der zivilisatorische Rückstand zum Westen war in der Mitte des Kontinents geringer geworden; markante Unterschiede bestanden weiter in der Bevölkerungsdichte, in wirtschaftlicher (Entstehung des europäischen Marktes) und geistig-religiös-kultureller Hinsicht, doch war der mittlere Osten nicht mehr nur Rezipient (Toleranz, Frühparlamentarismus). Um 1800 existierte Ostmitteleuropa schon nicht mehr, waren die Staaten in anderen Monarchien aufgegangen oder annektiert. Überdies war das Kulturgefälle von einem europäischen zu einem interkontinentalen Problem geworden.

Wegen Krankheit der ursprünglich vorgesehenen Referentin hatte kein Korreferat vorbereitet werden können. Als Einstieg in die unmittelbar anschließende Diskussion bemerkte Werner Paravicini (Paris), daß Kulturtransfer stets von Menschen getragen werde; Verwandtschaft und Reisen seien dessen Instrumente wie der Fernhandel auch. Ergebnis sei die "Verwestlichung" der Peripherie, deren Macht nicht unterschätzt werden dürfe. Künftige Forschungen sollten sich darum bemühen, das Kulturgefälle in Europa kartographisch präziser zu erfassen. Danach erläuterte Peter Moraw (Gießen) anhand von Zahlenreihen über Kirchenpatronate, Kollegiatsstifte, Städtegrößen und Bevölkerungsdichte, Steuerkraft, Universitäten, ausgebildete Juristen bei Hofe u.ä. die "extremen Kulturunterschiede" im spätmittelalterlichen deutschen Reich, die sich ähnlich auf Europa übertragen ließen. Nicht nur die Operationalisierbarkeit derartiger Fakten und die nationalen Forschungstraditionen stünden der Erfassung der Kontraste entgegen; bislang gebe es mehr "Kulturgefälle"-Theorie als deren Beweis.

In Anlehnung an Wallersteins "Wirtschaftswelten" wurde in der Diskussion der Begriff der "Kultur- oder Zivilisationswelten" vorgeschlagen; "Kulturgefälle" sei vor allem im Deutschen gebräuchlich wie umstritten und schon in die beiden anderen Konferenzsprachen kaum adäquat zu übersetzen. Mehrfach wurde betont, daß es ohne Peripherie kein Zentrum gäbe, freilich seien die innereuropäischen Grenzen im behandelten Zeitrahmen nie vollkommen geschlossen gewesen. Unterstrichen wurde der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur, doch gäbe der Parameter der innovatorischen Leistungen vielleicht ein verläßlicheres Bild der Unterschiede. Insgesamt sei die Kulturgefälle-Theorie sehr zielorientiert auf den modernen Staat und eindimensional, mit ihrem Determinismus vernachlässige sie Rückwirkungen des Ostens, Sonderentwicklungen (Inselbildungen, innere Peripherien) und außereuropäische Einflüsse (Mongolenherrschaft). Der lateinische Kulturkreis habe sich nicht linear ausgebreitet, vielfach sei es zum Zusammenstoß entwickelter Kulturen gekommen, seien alternative Entwicklungen abgebrochen worden.

Ausgehend von der Begriffsgeschichte seit dem Mittelalter stellte Hans-Heinrich Nolte (Hannover) am Nachmittag das Konzept von Modernisierung und Europa (in der Frühen Neuzeit) vor. Für das Konzept relevant war die amerikanische sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Debatte nach dem 2. Weltkrieg, in der "Stadien wirtschaftlichen Wachstums" (Rostow) entwickelt und Modernisierung als Gesamtprozeß im weiteren wie als Aufholen eines Rückstands im engeren Sinn unterschieden wurden. Letzteres hätte sich die Weltsystemtheorie zunutze gemacht ('konkurrierende Imitation'). Sie geht von der Einmaligkeit der Entwicklung und einem globalen System aus, das auf den Funktionen der Staaten und Großregionen füreinander sowie internationaler Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie beruhe. Gemäß dem Vorschlag des Referenten kann diese Ordnung um religiöse, intellektuelle, politische und andere soziale Kriterien ergänzt werden. Er exemplifizierte dies an der Carevna Sof'ja und ihrem Bruder und Nachfolger Peter I. von Rußland - gescheiterter und erfolgreicher Modernisierung. Westeuropa gab, zunächst über Polen, dann über Schweden vermittelt, das Modell. Trotz beachtlicher Erfolge gelang der sozialökonomische Aufstieg Rußlands im europäischen System nicht: "Running faster to stay in place." Das Beispiel bestätigt andererseits die Sonderstellung des (wandernden) Kerns. Im Unterschied zur Kulturgefälle-Theorie gebe das Weltsystemkonzept die Dynamik der Gesamtbewegung wieder und biete die Möglichkeit, Geschichte aus der Perspektive der Handelnden zu schreiben. Bereits die Christianisierung und die Entstehung des 'neuen Europa' im 10. Jh. könnten als Modernisierung im engeren Sinne gelten. Dagegen lehnte der Referent den Begriff zur Bezeichnung des Gesamtprozesses als einseitig, schönfärberisch und irreführend ab.

Auch Sławomir Gawlas (Warschau) sah in der vorgestellten Theorie des Weltsystems entscheidende Vorzüge gegenüber anderen Erklärungsmodellen. Polen als Land der Peripherie hätte in seiner gesamten Geschichte unter Modernisierungsdruck gestanden. Feststellbar seien Tendenzen und Maßnahmen zur Modernisierung am ehesten, wenn sie von oben geführt würden, unspektakuläre, langsame Veränderungen, getragen von einer breiten sozialen Schicht, entzögen sich hingegen vielfach dem Blick des Historikers. Die Übernahme 'gesellschaftlicher Standards' führte zur Angleichung der Herrschaftsmechanismen, doch seien dem Prozeß auch regressive Tendenzen inhärent. Wiewohl Unterschiede zur Neuzeit bestünden, sei es gerechtfertigt, von Modernisierung auch im Mittelalter zu sprechen. Für Polen lassen sich anhand seiner Sozial- und Verfassungsgeschichte im Mittelalter mehrere Modernisierungsphasen feststellen. Der Erfolg entsprechender Bestrebungen hing stets von den jeweiligen gesellschaftlichen Mechanismen ab, weshalb künftig verstärkt Forschungen über die Organisiertheit von Gesellschaften und Staaten angestellt werden müßten.

In der Diskussion wurden Ergänzungen zu den behandelten Theorien gemacht und weitere vorgestellt. Dabei fiel der Einwand, daß sie ein recht idyllisches Bild von Europa zeichneten, charakteristisch seien doch zuallererst die Kriege. Hierin entäußere sich Macht, die auch zu Modernisierungen genutzt werden konnte. Weiters gäbe es eine Reihe mißlungener bzw. verweigerter Modernisierungsversuche, zu präzisieren seien noch die parallelen Prozesse 'schöpferischer Zerstörung' - sowohl im Innern wie die Verdrängung von Herrschaften und Staaten, die nicht mehr zeitgemäß waren. Mehrfach wurde hinterfragt, ob man für das Mittelalter überhaupt von Modernisierung sprechen könne. Methodologisch eingewendet wurde, daß die retrospektive Methode ein hohes Maß Teleologie zur Folge habe. Unberücksicht blieben etwa Entwicklungen in rückständigen Ländern, die man als endogene Modernisierung bezeichnen könnte (Rußland unter Ivan IV.). Die traditionalen Gesellschaften Osteuropas hätten insgesamt ein großes Beharrungsvermögen besessen, das sich nicht zuletzt aus dem Klientelsystem der großen Familien erklärt. Andererseits sei das Weltsystem, obschon an sich dynamisch, von großer Stabilität. Abschließend wurde der außereuropäische Vergleich postuliert und gefragt, was das Besondere sei, was den spezifischen Weg Europas in die Moderne ermöglichte.

Der Abschlußdiskussion stellte Rudolf Schieffer (München) einige subjektive Bemerkungen voran. Die Tagung sei in geographischer wie zeitlicher Hinsicht sehr breit angelegt gewesen, welcher letztere Rahmen nicht immer eingehalten wurde. Zudem sei häufig in großen Zeitsprüngen gearbeitet worden. Ausgangspunkt sollte die Zäsur um 1000 sein, als das neue Europa entstand, das den alten Kontinent strukturell veränderte. Die daraus resultierenden Konsequenzen seien ohne nationale Traditionen diskutiert worden, weshalb zweitrangig bleibe, daß die Tagung keine konkreten Ergebnisse erbracht habe. Eröffnet sei vielmehr dank der Initiative der Organisatoren ein Diskussionsprozeß, der weitergeführt werden muß.

Die anschließenden Diskussionsvoten kreisten hauptsächlich um die Frage nach dem Besonderen der europäischen Geschichte. Wolle man sie beschreiben, dürfe sie nicht vom eigenen Standort aus betrachtet, sondern müsse in ihrer Gesamtheit erfaßt werden. Somit ergäbe sich die räumliche Gliederung 1. nach den großen Religionen, 2. nach den Monarchien und 3. nach der Produktionsweise, dem Handel und den Kommunikationswegen. Von hier aus ließen sich ggf. europäische Kulturlandschaften beschreiben; hingewiesen wurde nochmals darauf, daß auch im westliche Europa extreme Kulturunterschiede existierten. Die Konstatierung der Differenzen sage jedoch nichts über die Verhältnisse in den rückständigen Gebieten aus, weshalb die diskutierten Kategorien und Paradigmen für Osteuropa oftmals unergiebig seien. Ähnliches gelte für Byzanz. Vergleiche zwischen diesem alten Europa und dem neuen Westen könnten den Weg zur Erklärung und Verortung der europäischen Geschichte bieten wie außereuropäische Entwicklungen betrachtet werden müßten.

Die Konferenz stellte eine große intellektuelle Herausforderung dar, da sie weniger um konkrete historische Erscheinungen kreiste als Erklärungstheorien für die europäische Geschichte in der longue durée und terminologische Fragen behandelte. Der breite inhaltliche wie organisatorische Rahmen erschwerte mitunter die Diskussionsführung. Über 50 Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete aus neun europäischen Ländern hatten sich zusammengefunden und in offener Atmosphäre und bei hervorragenden äußeren Bedingungen über sie gemeinsam bewegende Probleme debattiert. Das die im Tagungskonzept aufgeworfenen Probleme bei einem Treffen sämtlich gelöst werden würden, war nicht annähernd zu erwarten. Gerade die Beobachtung jedoch, daß einzelne Problemkreise eher nationaler Tradition entstammen und die Diskussion zu ihnen folglich vorwiegend unter deren Vertretern geführt wurde, bestätigte die Initiatoren in ihrem Anliegen. Denn nur durch den gemeinsamen Gedankenaustausch, durch Internationalität und Interdisziplinarität kann die moderne Geschichtswissenschaft den gewachsenen Herausforderungen der Gegenwart gerecht werden. Um so wichtiger war es, einen Anfang gemacht zu haben. So waren sich alle Teilnehmer darin einig, daß der begonnene Dialog fortgesetzt werden und jeder noch mehr von seinen Nachbarn lernen müsse.

Für den Herbst 2003 ist eine Folgetagung geplant, die, organisiert vom DHI Paris, sich mit konkreten Austauschprozessen zwischen den europäischen Großregionen in Mittelalter und Früher Neuzeit befassen wird. Zusammen mit deren Ergebnissen werden auch die Beiträge der Warschauer Tagung publiziert.

Eröffnung
Prof. Klaus Ziemer, Direktor des DHI Warschau
Prof. Werner Paravicini, Direktor des DHI Paris
Dr. Marc Löwener, wiss. Mitarbeiter des DHI Warschau

Sektion I: Historische Raumbegriffe
Prof. Patrick Gautier-Dalché (Paris):
Représentations géographiques de l'Europe (en particulier septentrionale, centrale et orientale) au Moyen Âge

Korreferat
Prof. Anna Wessely (Budapest):
Die drei historischen Regionen Europas

Sektion II: Der Kulturbegriff
PD Dr. Thomas Wünsch (Konstanz):
Der Kulturbegriff

Korreferat
Prof. Andrzej Wyczański (Warschau)

Sektion III: Erklärungsmodell II: Kulturgefälle in Europa
Prof. Henryk Samsonsowicz (Warschau):
Kulturgefälle in Europa

Sektion IV: Erklärungsmodell II: Modernisierung in Europa
Prof. Hans-Heinrich Nolte (Hannover):
Modernisierung: das Konzept und Europa in der Frühen Neuzeit

Korreferat
Prof. Sławomir Gawlas (Warschau):
Modernisierung als analytisches Problem aus polnischer Perspektive

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Feb
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