Introduction
Die weltweite Vernetzung bewirkt eine Erweiterung der Forschungsperspektiven über eigene und bekannte Räume hinaus. Sie führt zu neuen Aufmerksamkeiten für Zusammenhänge, aus denen sich Fragestellungen ergeben, die zuvor vom eigenen Standort nicht formuliert werden konnten. Neben diesen globalen Herausforderungen ist die zeithistorische Forschung damit konfrontiert, dass sich in den letzten Jahrzehnten Veränderungen der Gesellschaft vollzogen haben, die anderes Verhalten, veränderte Denkweisen sowie Wertewandel erzeugen. Diesen Wandel gilt es zu kontextualisieren.
Gerade Makroprozessbegriffe, wie Säkularisierung und Privatisierung, provozieren bisher unbekannte Fragen und sogar ganz frische Unterbereiche der Geschichtswissenschaft. Diese neuen Ansätze bleiben jedoch nicht ohne Widerspruch: Gleichzeitig erleben nationalgeschichtliche Trends eine Renaissance und produzieren Spannungsfelder innerhalb des Faches. Hier zeigt sich, dass Globalisierungsfragen als Objekt der Geschichtswissenschaft ganz unterschiedlich bearbeitet werden können und mit gegenläufigen Tendenzen zu konkurrieren haben.
Die einzelnen Projekte des Forschungsbereichs nehmen sehr verschiedene Fragestellungen des 20. Jahrhunderts in den Blick. Gemeinsam ist den Projekten, dass die jeweiligen Blickrichtungen und die geografische Verortung ihrer Fragestellungen neu sind. Für die Analysen werden unterschiedliche Methoden genutzt – von Vergleichen bis hin zu exemplarischen Fallstudien.
Die thematische Breite wird durch die Einbindung drittmittelfinanzierter Vorhaben und Kooperationsprojekte erweitert. Im Besonderen stehen hier Untersuchungen zu Wissenschaftsbeziehungen zwischen Polen und der arabischen Region im Mittelpunkt. Ergänzt werden diese Projekte um Forschungen, die Holocaust, Kriegsgeschehen und Kriegsfolgen aus einer längerfristigen Perspektive analysieren, um mittels einer vertieften Darstellung und komplexen Erklärung gesellschaftlicher und medialer Kontexte Langzeitwirkungen des Zweiten Weltkriegs genauer positionieren zu können.
Project 1
Aneignung und Revitalisierung. Aushandlungsprozesse des deutsch-jüdischen Kulturerbes in Polen.
Researcher: Christhardt Henschel
Im Rahmen des Schwerpunktprogramms 2357 der DFG „Jüdisches Kulturerbe“ bearbeitet Chrishardt Henschel gemeinsam mit Kamila Lenartowicz das Tandemprojekt „Aneignung und Revitalisierung. Aushandlungsprozesse des deutsch-jüdischen Kulturerbes in Polen.“ Das Projekt wurde von Prof. Dr. Ruth Leiserowitz gemeinsam mit PD Dr. Ulrich Knufinke von der Bet Tfila – Forschungsstelle für Jüdische Architektur in Europa an der TU Braunschweig eingeworben.
In dem Forschungsvorhaben geht es um die Entwicklung des Umgangs mit gebautem jüdischen Erbe am Beispiel der Erhaltung und Nutzung ehemaliger Synagogen und anderer jüdischer Bauten in Polen, insbesondere in den ehemals deutschen Gebieten, als Teil von Aneignungsprozessen. Mit der besseren Kenntnis der erhalten gebliebenen Objekte setzte in vielen Orten ein Interesse von Bürgern ein, sie wieder als Orte jüdischer Kultur und Geschichte ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, andernorts waren es internationale Organisationen, die den Fokus auf die „vergessenen“ Synagogen und Friedhöfe lenkten. Christhardt Henschel konzentriert seine Forschungen vor allem auf die historische Einordnung dieser Prozesse. Ausgehend von denkmalpflegerischen Praktiken und Diskursen im Polen der Zwischenkriegszeit, der unter den Nationalsozialisten erfolgten Zerstörung bzw. Umnutzung der Synagogen sowie der Rechtspraxis in Bezug auf das Eigentum jüdischer Gemeinden in Nachkriegspolen, fragt er nach Akteuren, Institutionen und Diskursen, die den Umgang mit Synagogen bestimmten. Dabei geht es auch darum Unterschiede zwischen den zentralpolnischen und den ehemals deutschen Gebieten herauszuarbeiten. Desweiteren ist zu fragen, wie sich nationale und internationale Diskurse über das jüdische materielle Erbe verzahnten und auf lokaler Ebene sichtbar wurden. Ein weiterer wichtiger Kontext ist die kulturelle Aneignung der ehemals deutschen Gebiete durch die neuen Bewohner, die sich nach 1945 hier niederließen. Sie fanden eine maßgeblich von Deutschen geprägte Landschaft vor. Im Projekt wird gefragt, inwieweit sie in diesem Kontext Synagogen als explizit jüdisches (und damit „doppelt fremdes“) Erbe, oder Teil der deutschen Hinterlassenschaften wahrnahmen.
Project 2
Sozialistische Lebenswelten und Unterwelten: Machtorganisation des Stadtraums in den spätsozialistischen Großstädten Prag, Warschau und Ost-Berlin
Researcher: Dr. Jaromír Mrňka
Das Projekt untersucht die Machtverhältnisse im städtischen Raum spätsozialistischer Großstädte wie Prag, Warschau und Ost-Berlin in den 1980er Jahren und legt besonderen Fokus auf das Konzept der "Unterwelt". Hierbei handelt es sich um jene Bereiche und Lebenswelten am Rande der Gesellschaft, die oft von Menschen mit alternativen Lebensstilen, Randgruppen und sozialen Minderheiten bewohnt wurden. Diese "Unterwelt" existierte parallel zur offiziellen sozialistischen Ordnung und wurde von den staatlichen Sicherheitskräften als "kriminell mangelhaft" betrachtet. Das Projekt analysiert, wie diese "Unterwelt" in den städtischen Raum integriert war, wie sie von der Staatsmacht wahrgenommen wurde und wie sich die Mitglieder dieser Unterwelt mit ihrem Lebensraum identifizierten.
Das Hauptziel des Forschungsprojekts ist die Kartierung der Machtstrukturen im städtischen Raum von Prag, Warschau und Ost-Berlin in den 1980er Jahren. Es werden Transformationen durch Staatsmacht und Sicherheitskräfte sowie Lebensstrategien der Akteure in diesem hierarchisierten Raum analysiert. Das Projekt fragt auch, welche Verhaltensweisen von der Diktatur toleriert und welche unterdrückt wurden, basierend auf dem gesellschaftlichen Konsens über ein menschenwürdiges Leben im Sozialismus.
Zusätzlich beleuchtet das Projekt, wie die staatliche Macht in spätsozialistischen Gesellschaften trotz ideologischer Ansprüche bestimmte Grauzonen tolerierte und teilweise selbst daran teilnahm, wie z.B. in der Schattenwirtschaft. Dies unterstreicht die Spannung zwischen offizieller Ideologie und gesellschaftlicher Realität. Insgesamt bietet das Projekt einen Einblick in die sozialen Strukturen und das komplexe Wechselspiel von Macht, Identität und gesellschaftlicher Ordnung im Kontext dieser spätsozialistischen Großstädte, wobei die "Unterwelt" als ein zentrales Element in dieser Analyse herausgestellt wird.
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