Historikerstreit 2.0 - Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus

Das in diesem Jahr erschienene Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung: Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ von Natan Sznaider (Tel-Aviv-Yaffo) wird als Beitrag im sogenannten „Historikerstreit 2.0“ verhandelt. Am 24. November 2022 lud das Deutsche Historische Institut Warschau deshalb auf Initiative von Zofia Wóycicka unter dem Titel „Historikerstreit 2.0: Current German Debates on the Interconnections between History and Heritage of Coonialism and the Holocaust“ zu Vortrag und Diskussion ein. Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit dem Center for Research on Social Memory an der Universität Warschau organisiert. Ziel des Abends war es, die Debatte vorzustellen und in eine polnische sowie globale Perspektive einzubinden. Gemeinsam mit Sznaider und Wóycicka diskutierten Karolina Szymaniak (Wrocław) und Jie-Hyun Lim (Seoul).

Zu Beginn führte Sznaider allgemein in die Diskussionen ein, die im deutschsprachigen Raum seit einigen Jahren geführt werden. Die grundlegende historiografische Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust sei von großer Aktualität. Es stellen sich anschließend immer auch Fragen nach multikultureller Erinnerung in Deutschland sowie erinnerungspolitischer Anerkennung unterschiedlicher Formen kolonial, rassistisch begründeter und staatlicher Gewalt. Erstere sei nicht zuletzt auf demografische Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten zurückzuführen, die andere Fragen in den Mittelpunkt stellen. Insgesamt forderte Sznaider eine Globalisierung der geführten Aushandlungen.

In seinen Ausführungen unterstrich der Vortragende seinen Anspruch, die Debatte eher zu sortieren als sie eindeutig zu beantworten. Ausgehend von den Kontroversen um Achille Mbembe und der documenta 15 zeigte er die Vielschichtigkeit bisheriger Streitpunkte auf und betonte, dass unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig richtig und falsch seien. Es ergebe sich ein Spannungsfeld zwischen postkolonialer Kritik, Antisemitismusvorwürfen, Holocaustforschung und Menschenrechtsfragen, das letztlich unauflösbar sei. In Abgrenzung zu anderen Ansätzen, etwa Michael Rothbergs „multidirectional memory“, plädierte Sznaider dafür, dass durch Erfahrungen ausgelöste Traumata nicht vergleichbar seien und somit nicht als Ausgangspunkt für eine Annäherung dienen könnten. Vielmehr reiße Gewalterfahrung auseinander; die titelgebenden „Fluchtpunkte der Erinnerung“ stünden zueinander stets im Widerspruch.

Auf Sznaiders einführenden Impuls folgten die ergänzenden Beiträge der weiteren Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer, die den „Historikerstreit 2.0“ in Beziehung zum polnischen und globalen Kontext setzten. Dem im polnischen Fall häufig vermittelten Bild von Postkolonialität als „Ideenimport“ stellte Szymaniak eine Vielzahl von Arbeiten aus dem vergangenen Jahrhundert entgegen. Themen waren dabei unter anderem die Verhandlung polnischer Subalternalität sowie die Orientalisierung von Osteuropa. Lim ergänzte diese Punkte mit einem Verweis auf den frühzeitigen europäisch-nordamerikanischen Wissenstransfer zwischen jüdischen und schwarzen Gruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zudem differenzierte er anhand des Niveaus immanenter Selbstkritik schärfer zwischen Antikolonialismus und Postkolonialität.

In einer zusammenführenden Öffnung des Gesprächs traten die Diskutierenden schließlich in weiteren Austausch. Dabei griffen sie unter anderem eine Kritik auf, die Sznaider bereits zu Beginn geäußert hatte: Er sei mit der Bezeichnung „Historikerstreit 2.0“ nicht glücklich, da sich bei weitem nicht nur Historikerinnen und Historiker an dieser Debatte beteiligten. Aufbauend darauf kam in der späteren Diskussion der Vorschlag auf, den Streit nicht als historisches sondern ethisches Thema zu verstehen. Dies wiederum werfe Fragen nach der Motivation und dem ethischen Antrieb der Beteiligten auf. Sznaider vermute an dieser Stelle häufig eine versteckte politische Agenda und forderte deshalb mehr Ehrlichkeit.

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