Aktion Reinhardt: Von Tätern, Opfern und Zuschauern

Fotos: Monika Tarajko

Anlässlich des 80. Jahrestages der „Aktion Reinhardt“ veranstalteten das Jerzy Kłoczowski Ostmitteleuropa-Institut, das Grodzka Gate-NN Theaterzentrum in Lublin, das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies (Yale University) und das Deutsche Historische Institut Warschau eine Konferenz, die sich der Analyse der verschiedenen Phasen der Judenvernichtung in verschiedenen Teilen des Generalgouvernements widmete.

Mit dem Ziel, den neuesten Forschungsstand in diesem Bereich zu präsentieren und Perspektiven für weitere wissenschaftliche Untersuchungen aufzuzeigen, wurde die "Aktion Reinhardt" aus drei Perspektiven diskutiert: Täter, Opfer und Zuschauer. Im Mittelpunkt der Debatten standen neben den Vorbereitungen und dem Verlauf der Aktion Reinhardt auch die Funktionsweisen von Arbeits- und Vernichtungslagern für Juden sowie die Aufklärung über den Holocaust.

Gastgeber und Veranstaltungsort der vom 9. bis 11. Juni 2022 stattfindenden Tagung war das Teatr NN, eine zivilgesellschaftliche Institution, die sich öffentlichen historischen Projekten zum jüdischen Leben in Lublin widmet. Die Koordinatoren waren Christhardt Henschel und Łukasz Krzyżanowski vom DHIW, Rafał Wnuk und Mirosław Filipowicz von der Katholischen Universität Lublin sowie Paweł Jarosz, Adam Puławski und Monika Tarajko vom Teatr NN.

Die Konferenz wurde eröffnet vom Lubliner Bürgermeister Krzysztof Żuk sowie den Vertreterinnen und Vertretern der Trägerinstitutionen: Tomasz Pietrasiewicz vom Teatr NN, Ruth Leiserowitz vom DHIW und Stephen Narron vom Fortunoff Video Archive. Die Panels am ersten Tag waren den traditionellen, vom Historiker Raul Hilberg eingeführten Kategorien „Täter“, „Opfer“ und „Zuschauer“ gewidmet. Wie fließend und unscharf diese Kategorien sein können, zeigte sich durch die verschiedenen Tagungsbeiträge.
Den Tätern widmete sich im ersten Panel Edward Westermann. Er untersuchte, wie hegemoniale Vorstellungen von Kameradschaft und Männlichkeit die verbalen, körperlichen und sexuellen Aggressionen der deutschen Besatzungstruppen verstärkten. Markus Roth argumentierte, dass die Ad-hoc-Lösungen der deutschen Landräte im Generalgouvernement zu einer schrittweisen Radikalisierung des Holocaust führten. Andrzej Żbikowski konzentrierte sich auf Waffen-SS-Offizier Jürgen Stroop und dessen Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto im Jahr 1943. Robert Parzer überprüfte die gängige Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Euthanasieprogramm T-4 und dem Holocaust.

Im Panel über die Opfer fragte Christhardt Henschel, wie jüdische Bewohner des Regierungsbezirks Zichenau, obwohl sie dem Reich angegliedert waren und offiziell nicht in den Geltungsbereich der „Aktion Reinhardt“ fielen, dennoch Opfer der im benachbarten Generalgouvernement stattfindenden Operation wurden. Katarzyna Person untersuchte die jüdische Selbsthilfe im Warschauer Ghetto und die offensichtliche Solidarität der polnischen Juden mit den mehreren tausend westeuropäischen Juden, die 1942 eintrafen. Natalia Aleksiun zeigte auf, wie der Mangel an medizinischem Personal in Ostgalizien es jüdischen Ärzten ermöglichte, Unterlagen und Hilfsgüter von den vor Ort stationierten Deutschen zu beschaffen. Auf diese Weise sei es ihnen oft gelungen, andere Juden vor dem Holocaust zu retten.

Im kurzen Panel über die Zuschauer argumentierte Michał Kowalski, dass viele Polinnen und Polen den Holocaust aus der Ferne beobachteten, obwohl sie von den mit den deutschen Aktionen verbundenen Tötungen gewusst hätten. Die polnische Exilregierung habe ihre Berichte über die Ermordung der Juden indes genutzt, um – wie Adam Puławski zeigte – Polens internationales Ansehen im Krieg zu verbessern, anstatt den Juden selbst zu helfen.
Die Abschlussrunde des ersten Tages befasste sich mit Debatten und Kontroversen über die Holocaustforschung und führte zu einer lebhaften Diskussion zwischen Publikum und den Podiumsteilnehmern (Natalia Aleksiun, Jan Grabowski, Jan Tomasz Gross und Andreas Lawaty). Dabei ging es unter anderem um die Frage, wie sich der Holocaust in die nationalen Historiographien und die Jüdischen Studien einfügt und inwiefern die traditionelle Einteilung in Täter, Opfer und Zuschauer möglicherweise nicht mehr sinnvoll ist.

Am Folgetag fanden drei weitere thematische Panels statt. Im ersten Block standen die Kollaborateure im Zentrum. Tomasz Frydel untersuchte, wie verschiedene Kräfte (darunter die lokale Bevölkerung, der polnische Untergrundstaat und die deutschen Behörden) das Verhalten der polnischen „Blauen Polizei“ gegenüber den Juden beeinflussten. Zum Nachkriegsschicksal der sogenannten Trawniki-Männer (ukrainischer Kollaborateure) referierte Peter Black. John-Paul Himka ging der Frage nach, wie ukrainische Milizen mit den Deutschen zusammenarbeiteten, um den Holocaust im Reichskommissariat Ukraine umzusetzen. Grzegorz Rossoliński-Liebe zeichnete eine kollektive Biografie polnischer Dorfvorsteher im Generalgouvernement nach, wo eine „Arisierung“ von Berufen und Eigentum stattfand.

Im Methodik-Panel erläuterte Annika Wienert, wie mehrere aktuelle interdisziplinäre Studien eine innovative räumliche Untersuchung der Holocaust-Stätten vorgenommen haben, die über die traditionellen Grenzen hinausgeht. Am Beispiel der neuen Museen in Chełmno und Sobibór konnte Zofia Wóycicka zeigen, wie sinnlich-immersive Ausstellungen in Polen zur „modernen“ Norm geworden sind. Marcin Urbanek stellte einen Entwurf zur Neugestaltung einer Gedenkstätte vor. Durch dieses nicht umgesetzte Projekt habe Sobibór zu einem Ort werden sollen, der die Würde der jüdischen Opfer bewahrt.

Der Holocaust in der Bildungsarbeit war Thema des letzten Panels. Jolanta Laskowska befasste sich mit der Geschichte des Konzentrationslagers Lublin und der aktuellen Öffentlichkeitsarbeit der Gedenkstätte Majdanek, unter anderem mit dem Einsatz von Comics. Stephen Narron zeigte anhand von Ausschnitten aus dem Fortunoff Video Archive an der Yale University, wie Nachkriegszeugnisse analysiert werden können, um einerseits die polnisch-jüdischen Beziehungen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit zu verstehen und andererseits den Verlauf der „Aktion Reinhardt“ im besetzten Polen.

Für den letzten Konferenztag stand eine Exkursion zu Holocaust-Stätten in der Umgebung von Lublin auf dem Programm. Besichtigt wurden unter anderem das Gebäude, in dem die „Aktion Reinhardt“ von Odilo Globocnik koordiniert wurde, sowie die Gedenkstätte und das Museum im ehemaligen Vernichtungslager in Bełżec.

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