CfP: Das „Bibliomigratorische“ im deutsch-polnischen Kontext seit dem Zweiten Weltkrieg

Tagung am Deutschen Historischen Institut Warschau (DHIW), von Donnerstag, den 31. März bis Freitag, den 1. April 2022
Das „Bibliomigratorische“ im deutsch-polnischen Kontext seit dem Zweiten Weltkrieg
Konzeption / Organisation: Vanessa de Senarclens (senarclv@hu-berlin.de)

Der Historiker Robert Darnton hat die Geschichte eines Buches als einen lebendigen Kommunikationskreislauf – „a communication circuit“ – beschrieben, an dessen materieller Produktion, Vertrieb und Wirkung zahlreiche Akteure und Institutionen beteiligt sind: vom Autor zum Drucker und Buchhändler, über viele private wie öffentliche Räume wie Salons, Kaffee, Bibliotheken, in denen das Buch vom Leser interpretiert, diskutiert und adaptiert wird. Im 18. Jahrhundert, das Darnton untersucht, bilden diese Kommunikationskreise lebendige Netzwerke, die oft unter dem Radar der staatlichen Kontrolle interagieren. Auf verschlungenen und oft auch verbotenen Wegen werden Bücher durch ganz Europa transportiert, von Paris nach Warschau, von Dresden nach London, von Genf nach Leipzig.

Der Titel dieser Konferenz – Das Bibliomigratorische im deutsch-polnischen Kontext seit dem Zweiten Weltkrieg – rückt Bücher als Träger materieller aber auch immaterieller Geschichte in einen Kontext, in dem der Kreis der Kommunikation stark von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg geprägt ist. Mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen 1939 wurden bis Kriegsende 1945 rund 70 bis 75 Prozent der polnischen Bibliotheksbestände dezimiert, zerstört oder verstreut. Gemäß einer Berechnung von 2015 überlebten von den 22,6 Millionen Bänden der polnischen Bibliotheken vor 1939 nur ein knappes Drittel.

Nach der Verlegung der deutsch-polnischen Grenze entlang der Oder-Neiße-Linie im August 1945 gelangten hingegen Millionen von Büchern aus privaten, kirchlichen und auch ausgelagerten öffentlichen Sammlungen der Preußischen Staatsbibliothek in einen neuen nationalen Kontext. Aus polnischer Perspektive wurden diese „zurückgelassenen“ Bücher aus deutschen Bibliotheken als Staatseigentum betrachtet und als solches vor weiteren Plünderungen und Zerstörungen geschützt. Polen hat auch versucht, den Abtransport von „Trophäenbücher“ in die Sowjetunion zu verhindern. Laut einem polnischen Gesetz vom 6. Mai 1945 waren sie „verlassen und aufgegeben“.  Entsprechend bezeichnet man diese Bücher aus ehemaligen deutschen Bibliotheksbeständen als „sichergestellte Büchersammlungen“ und betrachtet sie als „Kompensation“ für die absichtliche Zerstörung von polnischen Archiven und Bibliotheken während des Krieges – wenn auch eine gänzlich unzureichende und unverhältnismäßige. In der Bundesrepublik wie auch in der DDR und vielleicht erst recht im wiedervereinigten Deutschland sind diese Bücher mit Begriffen wie „Verlust“, „schmerzliche Lücke“ oder „Zerrissenheit der Nachlässe und Sammlungen“ verbunden. Sinnbild dieser Zerrissenheit ist sicher die 8. Sinfonie von Beethoven: Die Handschrift des ersten, zweiten und vierten Satzes sind in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt, der dritten Satz Tempo di menuetto indessen in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau.

In Anlehnung an den Begriff der „Bibliomigrancy“ von B. Venkat Mani wollen wir auf dieser Tagung Geschichten von Büchermigrationen zwischen Deutschland und Polen ab 1939 in den Mittelpunkt stellen. Die Wortneuschöpfung, die auf dem englischen Wort „Migrancy“ abgeleitet ist, deutet nicht so sehr auf ein Ereignis hin – die Migration von einem Land in ein anderes oder von einer Sprache in eine andere – als vielmehr auf einen Zustand, der andauert und sich fortentwickelt. Bei dem Begriff „Bibliomigratorisch“ geht es ebenso um die Reise der Bücher in Raum und Zeit, wie auch um ihre sich wandelnde Semantisierung innerhalb geografischer, politischer, institutioneller und sprachlicher Räume. Neben der Migration der Bücher geht es auf unserer Tagung auch um ihre Stellung in den Institutionen, in die sie integriert oder in denen sie auch nur aufbewahrt werden. Wir wollen sowohl den wechselnden Status der Bücher erkunden als auch das zwischen Polen und Deutschland bis heute brisante Verhältnis von Gedächtnis, Erinnern und Vergessen. Seit nunmehr 75 Jahren sind diese Bücher Gegenstand zweier völlig verschiedener nationaler Erzählungen. Von einigen Initiativen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abgesehen, sind sie auf eine politisch-symbolische Dimension der Kriegsfolgen reduziert.

Die Bücher werden in Universitätsbibliotheken (Łódź, Kraków, Wrocław, Warszawa) aufbewahrt - häufig jedoch ohne erklärenden Zusammenhang, unzureichend katalogisiert, ohne Eingabe von Provenienz, „Verlegt, verwahrt und vergessen“, wie ich an einer Voltaire-Ausgabe der Philosophie de l’Histoire von 1765 zeigen konnte. Und doch haben diese Bücher etwas Gemeinsames: Auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Linie geht es um Verlust- und Trauergeschichten.

In ihrem programmatischen Aufsatz von 2017 mit dem Titel "Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe" plädierte Bénédicte Savoy für einen offenen Umgang mit der Provenienz kunsthistorischer Objekte auf ihren Wegen im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts in die europäischen Sammlungen. Sie zeigte, wie Trauer dadurch überwunden werden kann, dass man die Geschichte von wechselseitiger Wirkung und Verflechtung als gemeinsames europäisches Erbe erzählt und teilt. Die Bücher, die uns hier interessieren, sind im Gegensatz zu den Objekten der Kunstgeschichte, die Savoy behandelt, selten in einer Museumsvitrine vorzufinden, sondern werden oft vernachlässigt und vergessen. Doch sind sie gleichermaßen Zeugnis einer gemeinsamen europäischen Geschichte, die in eine Zeit weit vor 1939 zurückreicht. Der fast wahrgewordene Traum einer umfassenden erhabenen Weltbibliothek, in der alle Bücher über die digitalen Medien friedenstiftend überall zugänglich sind, hat auch etwas Abstraktes. Die Wiederentdeckung der „Lust am Buch“, wie Michael Hagner ausweist, geht mit Erzählungen, Provenienzforschung und subjektiver Aneignung einher. Auf dieser Tagung wollen wir die Bücher aus ihrem politischen toten Winkel herausholen und sie als lebendiges „Geschichtsding“ betrachten, samt ihrer „Biographie“ mit ihren kulturellen, sozialen und politischen Aspekten.

Avisierte Fragen und Themen

  • Beispiele einzelner Bände aus polnischer oder deutscher Sammlungen, die im Krieg aus ihren institutionellen Kontext gerissen oder gar vollkommen zerstört wurden.
  • Geschichte der Wege und der Wirkung einzelner Bände – auch als „vermisste“, abwesende, zerstörte Objekte im polnischen und deutschen kulturellen Gedächtnis.
  • Stellenwert dieser Bücher im politischen und diplomatischen Diskurs sowohl in Polen wie auch in Deutschland. Können wir Schlüsselmomente in der Behandlung dieser diplomatischen Angelegenheit seit 1945 ausmachen, sowohl zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen wie auch zwischen Polen und der Bundesrepublik?
  • Was machen sich wandelnde Kontexte mit dem Buchobjekt, aber auch, was bewirkt ein solches Buch in verschiedenen wechselnden sozialen und politischen Umfeldern?

Die Tagung findet in Kooperation mit und in den Räumen des DHI Warschau statt. Das DHI Warschau wird während der Tagung auch einen Übersetzungsdienst anbieten.

Sprachen: Deutsch, Englisch, Polnisch
Deadline für die Einreichung der Abstracts ist der 1. September 2021.

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