Jüdische Flüchtlingsströme im Zweiten Weltkrieg

Unter dem Motto „Sell Our Souls“ fand am 26. Mai 2022 die dritte Konferenz der Reihe „Casablanca of the North Academy“ statt. Organisiert wurde sie von der Stiftung „Sugihara Diplomats for Life“ in Kooperation mit der Vytautas Magnus Universität Kaunas und dem Deutschen Historischen Institut Warschau. Die Tagung widmete sich der Geschichte jüdischer Flüchtlinge, die in der Zeit von 1938 bis 1945 aus NS-Deutschland und dem besetzten Europa zu entkommen versuchten. Gegenstand der Diskussionen waren die Fluchtwege und die Transitstaaten, die Fluchthelfer, sowie die sich wandelnden Erinnerungen an diese Ereignisse. Die unterschiedlichen Forschungsperspektiven der versammelten Historiker/innen und Sozialwissenschaftler/innen aus Litauen, Polen, Deutschland und der Schweiz halfen, ein vielschichtiges Bild unterschiedlicher Transiterfahrungen zu skizzieren.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Ruth Leiserowitz (DHIW), die in ihrer Keynote die Geschichte jüdischer Flüchtlinge in Kaunas zwischen 1938 und 1941 vorstellte. Anhand bisher wenig erforschter Ego-Dokumente zeigte die Historikerin, dass Kaunas von deutsch-jüdischen Flüchtlingen in der Vorkriegszeit als sicherer Ort wahrgenommen wurde. Damit habe sich die damalige Hauptstadt Litauens im Jahr 1939 zu einem attraktiven Transitort, einem Hotspot für Flüchtlinge, entwickelt.

Die übrigen Beiträge widmeten sich dem diplomatischen Engagement und dessen Rolle in der Flüchtlingshilfe. Olga Barbasiewicz (Warschau) warf einen Blick auf die Tätigkeiten von Chiune Sugihara, einem japanischen Diplomaten und Gerechten unter den Völkern, bevor sie das Flüchtlingsbild im Bericht des polnischen Soldaten Olgierd Koreywo analysierte. Dieser sei aus dem deutschen Kriegsgefangenenlager in Stargard geflohen und habe über Warschau das japanische Konsulat in Kaunas erreicht. Dort sei seine Flucht in den Sugihara-Akten festgehalten worden. Familienforscher Rabbi Aaron Kotler (New Jersey) stellte seine Familiengeschichte vor und beschrieb, wie Juden in Kaunas durch den genannten japanischen Botschafter und den römisch-katholischen Priester Vincas Venckus gerettet wurden. Historiker Daniel Gerson (Bern) beschäftigte sich mit Schweizer Diplomaten, die während des Holocausts zwischen Neutralität und Humanität gewirkt haben. Er verwies auf die Vielfalt an Verhaltensweisen, die sich durch die individuellen Charaktere der beteiligten Personen erklären ließen, aber auch durch die spezifischen lokalen Umstände, unter denen die Schweizer Diplomaten hätten arbeiten müssen. Damit betonte er die Bedeutung neutraler Akteure in Krisenzeiten. 

Zofia Wóycicka (DHIW) hingegen betrachtete die Erinnerungskultur von Transiterfahrungen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des DHI Warschau erläuterte die kontroversen Erinnerungen an die sog. Ładoś-Gruppe, eine in der Schweiz wirkende gemischte Gruppe zusammengesetzt aus polnischen Diplomaten und, zumeist polnisch stämmigen, Schweizer Juden. Anhand ihrer Geschichte erörterte sie, wie die Geschichte der kollektiven Rettungsbemühungen während des Holocausts in Polen konstruiert und politisch instrumentalisiert wurde. Bei der Analyse der polnischen Geschichtsdarstellung sowohl in offiziellen Erklärungen und Beschlüssen als auch in der Populärkultur (einschließlich Tagespresse, Dokumentarfilmen, Theaterstücken und Internetportalen) stellte sie fest, dass sich Meinungsverschiedenheiten weniger auf historische Fakten beziehen. Diese seien inzwischen relativ gut erforscht. Vielmehr gehe es um unterschiedliche Betrachtungsweisen und die Art, wie diese Geschichte erzählt werde. 

Mit den Fluchtwegen verschiedener Flüchtlingsgruppen befassten sich die Historiker Arvydas Pakštalis (Kaunas) und Johann Nicolai (Berlin). Pakštalis sprach über die lange und komplizierte Reise baltischer Flüchtlinge nach Australien, bevor Nicolai die Fluchtroute des Breslauer Juden Bodo Langer nach Chile präsentierte. Diese sei einerseits mit den Erfahrungen von Vertreibung, Entwurzelung und Fremdheit verbunden gewesen und andererseits mit Überleben und Wiederaufbau eines Lebens nach dem Krieg. Abschließend referierte Historiker Linas Venclauskas (Kaunas), einer der Organisatoren der Konferenz, zum Thema „Flüchtlinge in Litauen während des Zweiten Weltkriegs“. Seine Argumente stützte er dabei auf Analysen der Memoiren des litauischen Schriftstellers und Diplomaten Ignas Šeinius und des litauischen Juristen Mykolas Römer, die beide über Geflüchtete, deren Transiterfahrungen sowie ihre Bemühungen schrieben, anzukommen.

Die eintägige Konferenz erwies sich als äußerst gelungen und produktiv. Die Beiträge ermöglichten ein besseres Verständnis der Geschichte der Fluchtbewegung zwischen 1938 und 1945. Gleichzeitig wurde deutlich, dass dieser Forschungsbereich noch viele Desiderate aufweist, denen sich Historikerinnen und Historiker zukünftig annehmen sollten.

04
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