Perspektiven auf die historische Nationalismusforschung heute

© Mindaugas Mikulėnas

Nachdem das Thema während der 1960er und 1970er Jahre immer mehr in den Hintergrund gerückt war, erlebte die historische Nationalismusforschung in den 1980er Jahren einen Boom. Diese Entwicklung beobachtet Stefan Berger, Professor für Sozialgeschichte und Direktor des Instituts für soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum, der das Thema am 24. Februar 2020 in Vilnius besprach. Der Vortrag fand im Rahmen der Reihe „Montagsvorträge“ statt, organisiert gemeinsam von der DHIW-Außenstelle und der Universität Vilnius.

In seinem Vortrag nahm Berger nicht nur Bezug auf die Entwicklungsphasen der historischen Nationalismusforschung, sondern stellte auch gegenwärtige Herausforderungen für das Forschungsfeld vor. Die Frage danach, welche politisch-gesellschaftliche Bedeutung der Nationalismusforschung im Zeitalter globaler Rechtspopulismen heute zukommt, war einer der Schwerpunkte seiner Argumentation.

Die Erforschung des Nationalismus, der laut Berger zu einer der mächtigsten Ideologien der modernen Welt zählt, habe sich global ausgebreitet – und das äußerst rasant. Ihre Renaissance habe das Forschungsfeld nach dem Ende des Kalten Krieges, unter anderem im Post-Kommunismus, erlebt. Als Beispiel dafür nannte der Historiker das Großbritannien der 1980er Jahre, wo der Nationalismus mit dem politischen Sieg der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher zurückkehrte. So sei versucht worden, das Vereinigte Königreich zu den viktorianischen Werten zurückzuführen.

Stefan Berger stellte frühe Diskurse zur Nation und zu vormodernen Nationalismen vor und zeigte, wie sich die Nationalismusforschung entwickelt hat. Dazu präsentierte er einen kurzen Überblick über die einflussreichsten Ansätze, wie z. B. die grundlegenden Studien vom tschechischen Historiker Miroslav Hroch, dem tschechoslowakisch-britischen Anthropologen, Soziologen und Philosophen Ernest Gellner, und den Anhängern der konstruktivistischen Wende in der Nationalismusforschung Benedict Anderson und Eric Hobsbawm, die für die Nationalismusdebatten noch immer sehr bedeutend seien.

Um aktuelle Herausforderungen für die Nationalismusforschung ging es im zweiten Vortragsteil. Das Hauptaugenmerk richtete Berger auf neue transnationale Ansätze und globalisierende Tendenzen. Er verwies auf ein breites Spektrum an transnationalen und vergleichenden Forschungen zu multiplen Nationalismen – bezogen auf unterschiedliche territoriale Regime – und diskutierte deren Einfluss auf die Entwicklung von Nationalismen. In diesem Zusammenhang befasste sich Berger mit der Janusgesichtigkeit des Nationalismus sowie der der Unterscheidung von „gutem“ und „schlechtem“ Nationalismus. Zudem wurden die Herausforderungen eines intersektionalen Ansatzes sowie die Denationalisierung der Geschichtsschreibung debattiert.

Abschließend setzte sich der Referent mit der psychologischen Herausforderung des Nationalismus auseinander und beschäftige sich mit der Frage, wie potenziell tödliche Antagonismen vermieden werden können. Dabei betonte er die Notwendigkeit der Entwicklung von agonalen Perspektiven in der Nationalismusforschung. Die anschließende Diskussion widmete sich theoretischen Fragen, wie z.B. der Bedeutung von Konstruktivismus, der Rolle nationaler Indifferenz sowie der Frage nach dem Einfluss von Kulturstudien für die gegenwärtige Nationalismusforschung. Außerdem wurden die Politisierung des Nationalismus, der Kampf um die europäische Erinnerung und die Geschichtspolitik der Europäischen Union im Kontext der Nationalismusforschung diskutiert.

23
Apr
Vortrag
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