Sommervortrag: „Nachbarschaft‟ — ein Konzept zum besseren Verständnis Ostmitteleuropas?

Nachbarschaft wird oftmals als universelles und selbstverständliches Phänomen angesehen.  Am 14. Juli 2022 stand das Phänomen im Fokus des Sommervortrags der Außenstelle Vilnius, der im Rahmen des Thomas-Mann-Festivals in Nida stattfand. Eduard Mühle, ehemaliger Direktor des DHI Warschau und gegenwärtiger Professor für Geschichte Ostmitteleuropas und Osteuropas an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster fragte, ob und wie das Konzept „Nachbarschaft“ zu einem besseren Verständnis der spezifischen Komplexität Ostmitteleuropas beitragen kann. Moderiert wurde die Veranstaltung vom litauischen Historiker der Vytautas-Magnus-Universität, Egidijus Aleksandravičius.

Mühle begann seinen Vortrag mit theoretischen Überlegungen. Er argumentierte, dass Nachbarschaftsbeziehungen durch das Zusammenspiel dreier Faktoren entstünden. Zunächst gebe es die geografisch-räumliche Dimension, zweitens sei Nachbarschaft ein soziales Phänomen: Erst persönliche Beziehungen und regelmäßiger Interaktionen ließen Nebeneinanderwohnende zu Nachbarn werden. Drittens nannte er die zeitliche Ebene: Zwar würde sich nachbarschaftlicher Kontakt immer über eine gewisse Zeitspanne erstrecken, er sei jedoch unterschiedlich lang.

Was bedeutet das nun für die empirische Geschichtsforschung? Dieser Frage widmete sich Mühle im zweiten Vortragsteil. Am konkreten Beispiel der Nachbarschaftsgeschichte des Memelgebiets in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts testete er die theoretischen Prämissen. Das Memelland, das als Nordspitze der Provinz Ostpreußen bis Anfang 1920 zum Deutschen Reich gehörte, wurde 1945 als Teil der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik in die Sowjetunion eingegliedert. Der Historiker stellte die nachbarschaftlichen Beziehungen dieses Gebietes dar. Die Region sei nicht nur von einer deutsch- und einer litauischsprachigen Bevölkerung bewohnt worden, sondern auch durch eine konfessionelle Vielfalt (lutherische, jüdische und katholische) geprägt worden. Mühle analysierte die sozialen Interaktionen und Formen von nachbarschaftlichem Gemeinschaftshandeln sowie nachbarschaftliche Konflikte in diesem Gebiet.

Abschließend erklärte der Historiker, im Fall der Geschichte des Memellandes sei es wichtig, die historische Vielfalt, Heterogenität und Hybridität aus der spezifischen Perspektive des universellen Phänomens „Nachbarschaft‟ zu beleuchten. Damit könne die traditionelle, dualistische Sichtweise (Region wurde lediglich als Feld antagonistischer Beziehungen zwischen Litauern und Deutschen betrachtet) auf die Geschichte der Region überwunden werden.  Die Einzigartigkeit des Falles Memelland im ost- und mitteleuropäischen Kontext, die Frage zu der Wiederentdeckung der verschwundenen Gemeinschaften sowie die Verwendung des Konzepts „Nachbarschaft‟ für die historische Forschung wurden anschließend anregend mit dem Publikum diskutiert. Für November ist ein Workshop am DHI Warschau zur Geschichte der Nachbarschaft geplant.

04
Apr
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