Mobilität: Migration und globale Netzwerke
Mobilität, Migration und Netzwerke sind seit Langem Teil der menschlichen Erfahrungswelt und bilden damit entscheidende Kräfte des ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Wandels. In Bezug auf den Beitrag von Migrant:innen zur Gesellschaft sprach Moris Farhi gar davon, dass alle Geschichte Migrationsgeschichte sei. Die gemeinsame Zielstellung der Projekte dieses Forschungsschwerpunktes besteht daher darin, weltweite Vernetzungen zu untersuchen, die sich im Alltag widerspiegeln, sowie die damit einhergehende Globalisierung.
Die Forschungsvorhaben verlassen im Sinne einer world connecting (Emily Rosenberg) den Container der Nationalgeschichtsschreibung und untersuchen Verknüpfungen zu anderen Regionen. So lassen sich in allen Epochen Handelsströme und Wanderungen von Menschen nachweisen, die durch die Nutzung translokaler Netzwerke (beispielsweise persönlicher oder materieller Art) bedingt sind. Der Austausch Ostmitteleuropas mit Zentralasien und dem Nahen Osten war beispielsweise für die Anfänge europäischer Staatenbildung im (frühen) Mittelalter von Bedeutung. Diese Verknüpfungen lassen sich auch für frühneuzeitliche Personenverbandsstaaten und neuzeitliche Imperien bis hin zur Herausbildung von Nationalstaaten und supranationaler Organisationen wie der UNO oder der Europäischen Union nachweisen.
In ähnlichem Rahmen können Fragen des mittelalterlichen Landesausbaus und der damit verbundenen Migration ebenso untersucht werden wie frühneuzeitliche Handelsbeziehungen und der Mobilitätswandel, der sich durch die Transportinnovationen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzog. Dabei sollen auch Konflikte in den Blick genommen werden. Wie historische Studien zum 19. Jahrhundert zeigen, gehörten zu einer verbundenen Welt neben grenzüberschreitendem Wissens-, Personen- und Warenaustausch auch Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung. Letzteres betraf über die Jahrhunderte hinweg wiederholt die jüdische Bevölkerung.
Auch im 20. Jahrhundert blieben Migrationsprozesse prägend für Ostmitteleuropa. Neben den vieldiskutierten Phänomenen der Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung während der 1930er und 1940er Jahre sind auch wirtschaftliche und politische Zwänge zu nennen. Außerdem sollen freiwillige Migrationsbewegungen Berücksichtigung finden: In allen Epochen gab es Menschen, die durch Migration ein „besseres Leben“ suchten, ohne (direkt) durch politische Umstände gezwungen zu werden. Auswanderungen in west- und mitteleuropäische Metropolen und die „Neue Welt“, die Freiheiten innerhalb der Europäischen Union sowie neue Tourismusformen – all dies sind Beispiele für Ostmitteleuropa als Transitraum.
Der Forschungsschwerpunkt möchte insbesondere zur Auseinandersetzung mit folgenden Themen anregen:
- Herausbildung und Situierung von Exilgemeinden und deren Einfluss auf die Ziel- und Herkunftsregionen
- Faktoren, die Migrationsprozesse und die Herausbildung von translokalen Netzwerken ermöglichten bzw. behinderten
- geschlechtsspezifische Perspektiven auf Migration und Mobilität
- technische Innovationen und Transport sowie Migration von Ideen, Wissen (Know-how) und Menschen in wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich im globalen Maßstab Migrations- und Ansiedlungspolitiken heraus, die auf utilitaristischen und rassistischen Grundlagen beruhten und bis heute wirkmächtig sind. Gemeinsam waren diesen Politiken typische Ausprägungen von Siedlerkolonialismus: Sie richteten sich genozidal gegen indigene Bevölkerungsgruppen und setzten auf eine selektive Einwanderung, um neu eroberte oder annektierte Gebiete mit erwünschter Bevölkerung zu besiedeln. Das Projekt fragt nach den transnationalen Verbindungen dieser simultanen Entwicklungen und untersucht dies paradigmatisch anhand von globalen Migrationsbewegungen der so genannten Wolhyniendeutschen.
Dabei handelt es sich um Deutschsprachige, die in den 1860er Jahren im heute nordwestukrainischen Wolhynien siedelten. In den 1880er und 1890er Jahren machten sie sich angesichts antideutscher Politiken im Westen des Russländischen Reiches vielfach auf die Suche nach besseren Lebensbedingungen. Sie trafen ihre Migrationsentscheidungen anhand eines komplexen Geflechts persönlicher, wirtschaftlicher und religiöser Gründe, was zur Wahl ganz unterschiedlicher Emigrationsorte führte. Dabei mussten sie sich an rassistischen Abgrenzungslinien orientieren, die der Soziologe, Historiker und Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois bereits vor über einhundert Jahren als „global color lines“ bezeichnet hat.
Auf dieser Grundlage wurden Deutschsprachige im Westen des Russländischen Reichs als geostrategische Bedrohung wahrgenommen, während sie in Sibirien und im Fernen Osten des Reichs als wertvoller Gegenpol zur indigenen Bevölkerung und Immigrant:innen aus dem Chinesischen Reich geschätzt waren. Das Deutsche Reich versuchte sie als Werkzeuge seiner Germanisierungspolitik in der Provinz Posen zu nutzen, allerdings mit mäßigem Erfolg. „Wolhyniendeutsche“ orientierten sich nicht an ethnonationalen Erwägungen und bevorzugten beispielsweise Kanada und Brasilien, wo sie als „weiße“ Landwirt:innen anders als die afrikanische, asiatische und indigene Bevölkerung mit offenen Armen empfangen wurden.
Mit einer vergleichenden Untersuchung der polnischen und irischen Unabhängigkeitsbewegungen des späten 19. / frühen 20. Jahrhunderts abseits bekannter Pfade schlägt das Projekt neue Forschungsperspektiven vor. Dabei liegt der Fokus auf Strukturen und personellen Netzwerken sowie den Ressourcen Zeit und Geld. Zunächst werden interpersoneller Beziehungen mittels der Methode der historischen Netzwerkanalyse rekonstruiert, um so Subnetzwerke aus politischen Akteuren der zweiten Reihe (backbenchers) zu identifizieren und deren Einfluss und agency zu ermitteln. Damit wird das Augenmerk auf bisher vernachlässigte Aspekte der historiografischen Untersuchung der Unabhängigkeitsbewegungen, abseits bekannter „großer Namen“ sowie der weitestgehend durchdrungenen Politik- und Ideengeschichte, gelenkt.
Die Rekonstruktion der Netzwerke bildet die Grundlage dafür, zwei für die Bewegungen wichtige Ressourcen zu analysieren: Zeit und Geld. Die monetäre Seite ist für den irischen Fall bereits untersucht, eine Erforschung des Zeitempfindens der Akteure und der Wahrnehmung von Dringlichkeit steht in beiden Fällen noch aus. Bekanntermaßen radikalisierten sich Teile beider Bewegungen und akzeptierten Gewaltanwendung als Strategie zum Erreichen ihrer politischen Ziele. Das Projekt geht der Frage nach, welche Rolle dabei Zeit und Geld spielten. Die Arbeitshypothese lautet, dass das Zeit- und Dringlichkeitsempfinden sowie fehlende finanzielle Mittel zur Herausbildung unterschiedlicher Erwartungsräume und Erwartungshorizonte (Koselleck) führten. Dieses Empfinden wurde jedoch nicht von allen Betroffenen geteilt, sodass es zu unterschiedlichen Entscheidungen für oder gegen Gewalt und zu Diskonnektivitäten in den Netzwerken in den Bewegungen kam. Sinnbildlich steht hierfür das Beispiel des Irischen Bürgerkriegs und der Feindschaft der ehemaligen Weggefährten Michael Collins und Eamon de Valera.
Warum erscheint das Münzwesen der ersten Piasten im Vergleich mit den benachbarten Regionen Ostmitteleuropas unterkomplex? Was sagen die Qualität und Quantität der Geldproduktion über die Funktionsweise des Staates und die Mechanismen der Herrschaftsausübung aus? Und warum wurden Münzen überhaupt geprägt? Die letzte Frage mag auf den ersten Blick trivial sein, hat aber eine weitaus größere Bedeutung als in den Geisteswissenschaften lange angenommen wurde. Neuere Studien zeigen, dass die Ursprünge der Nutzung von Silber in Mesopotamien nicht unbedingt auf die Entstehung von Märkten zurückzuführen sind. Im Gegenteil: Die Edelmetalle wurden als ein Wertmaßstab innerhalb der Verwaltung von Großhaushalten verwendet und dienten der Erfüllung von Verpflichtungen.
Von dieser übergreifenden Fragestellung ausgehend kontextualisiert das Forschungsvorhaben die räumlichen Entwicklungsunterschiede im Europa des 11.–13. Jahrhunderts und analysiert die Übernahme monetärer Muster aus dem Westen des Kontinents sowie ihren Einfluss auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse im piastischen Polen. Dabei stellte die konkurrierende Imitation einen geeigneten Mechanismus dar, Wissenstransfer zu befördern. Hierdurch konnten Herzöge und Könige Kompetenzen akkumulieren, um Einnahmen zu erhöhen und die Herrschaftsausübung in Rivalität mit anderen Souveränen effizienter zu gestalten. Im Projekt wird das Hoheitsgebiet der Piasten nicht nur mit dem römisch-deutschen Reich verglichen, sondern es werden auch weitere Gebiete zwischen Prag und Alt-Lübeck einbezogen.
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